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Seite 6 KitzbüheLer Anzeiger Samstag, 12. April 1969 aber dem Menschen genommen, dann wirkt das Leben leer, unausgefüllt und oft sinnlos. Wir müssen viele Men- schen wieder dazu bringen, sich die Frage vorzulegen, ob es außer dem wünschenswerten Wochenende, dem Au- to, dem Fernsehapparat, der automati- schen Waschmaschine noch andere Wer- te gibt, die wir verlieren könnten und die daher zu verteidigen sind. Ich mei- ne jene geistigen Werte, die das Leben erst lebenswert machen, so die Frei- heit des Wortes allerwegen und die Freiheit, unsere persönliche Lebens- gestaltung selbst zu bestimmen, 'den Beruf zu wählen, wie es einem beliebt und die Freiheit, den Arbeitsplatz auszusu- chen und wechseln zu dürfen und die Freiheit, unserem Gewissen folgen zu dürfen und nicht 'der Parteilinie folgen zu müssen und die Freiheit, die sozialen Rechte durch Berufsorganisationen überwachen und verbessern zu dürfen. Was wir zu verteidigen haben, ist ein Rechtszustand, der uns nicht er- schauern läßt, wenn es zur ungewohn- ten Zeit an der Türe läutet. Was wir zu verteidigen haben, ist die Freiheit der Religionsausübung, die geschützte Sphäre unserer religiösen Gefühle und Bedürfnisse. Was wir zu verteidigen haben ist die Familie. Sie ist unantast- bar. Heute wissen wir, wenn es in der Früh an der Wohnungstür läutet, daß es die Milchfrau oder der Postbote und nicht der Gestapo-Mann ist. Wir Aelteren wissen, daß es einmal anders war. Wir wissen aber auch, daß es anderswo noch so unsicher ist, wie es einmal bei uns war. Es gibt ein chinesisches Sprichwort: „Du kannst durch drei Arten klug wer- den: Durch Nachahmung, das ist die leich- teste; durch Nachdenken, das ist die edelste; durch Erfahrung, das ist die bitterste'." Ich frage Sie: Sollen wir erst durch bittere Erfahrung klug werden? Täglich treten auf allen Lebensge- bieten tausende Fragen an uns heran. Es gibt mehrere Methoden, mit ihnen fertig zu werden. Die einen tun über- haupt nicht mit, sondern beschränken sich darauf, der guten alten Zeit nach- zutrauern. Da die Natur weise 'einge- richtet ist und der Mensch alles Schlech- te bald vergißt, während ihm alles Gute leichter im Gedächtnis bleibt, so ist jede Zeit für die nachfolgende die gute alte Zeit, selbst wenn sie n'o'ch so miserabel war. Die anderen wiederum halten die jeweils gegenwärtigen Zustände für den Inbegriff des Bösen. Sie glauben, die grundlegenden Fehler erkannt zu haben, stellen eine Theorie auf, ein gedankliches System, dessen Verwirk- lichung der Menschheit das goldene Zeitalter beschere. Mit einem Wort, es soll alles anders werden. Lassen Sie mich zu diesem unklaren Begriff fol- gendes sagen: Aenderungen und durchgreifende Re- formen, wo immer sie geschehen, müs- sen billigerweise stets unter dem Ge- setz der Rücksichtnahme stehen, sie sollen in Liebe und Gerechtigkeit ge- schehen, in Ehrfurcht vor der Tradi- tion und ihren echten Werten. Daf man leichtfertig aufgehen, was noch lebendig ist, zumal dann, wenn man nicht in der Lage ist, Besseres oder- Gleichwertiges der Gleichwertiges an seine Stelle zu set- zen? Diese Gedanken führen gerade- wegs zur Frage der geistigen Krise unserer Zeit. Teilweise verständnislos, teils schok- kiert, aber auf alle Fälle ratlos, steht die menschliche Gesellschaft der tief- greifenden Unruhe gegenüber, die sich in unserer Zeit der Jugend bemächtigt hat. Nicht nur in den Universitäts- städten der Deutschen Bundesrepublik, sondern beinahe in allen Ländern Eu- ropas und anderer Kontinente. Ueberail erleben wir etwas von der Auflehnung der Unzufriedenen gegei die etablierte Ordnung. Vom Aufstand der Studenten gegen die Professoren, von der Unzufriedenheit der Jungen gegen die Aelteren, von der Rebellion der Hungrigen gegen die Satten. Ueberkommene Sitten und Bräuche, ja nicht selten die sittlichen Normen selbst werden in Frage gestellt. Kri- tik trifft auch den christlichen Glau- ben und die Kirche, ihre Gestalt, ihre Führung, ihre Gesetze und Lebensweise. Was ist von dieser Unruhe zu hal- ten? Ist sie von Gutem oder Bösem? Es gibt ohne Zweifel eine Unruhe, die gut ist. Und wer möchte es die- ser lebendigen Jugend verdenken, wenn sie nicht alles, was sich anpreist, un- besehen annimmt, sondern ernsthaft prüft und sorgfältig abwägt, wenn sie das wahrhaft Wertvolle auch sucht und sich nicht mit Unwertiglem abi- speisen läßt, wenn sie nicht echte Edelsteine für glitzernde, aber wertlose Glasperlen eintauschen will. Wahrhaftig gibt es eine, eine heilige und heilsame Unruhe. Sie entstammt der Sehnsucht nach dem Wahren und Guten und Besseren, sie entstammt der Trauer über die Lüge, das Böse, über die Mängel der Zustände, über die Fehler und Bosheiten der Mensch- heiten. Die Motive sind vielfach: Ver- letzte Liebe, verhinderter Idealismus und die Sehnsucht nach einer besse- ren Welt. Es gibt aber auch eine Unruhe, die aus anderen Quellen gespeist wird. Es ist jene Unruhe, die Anteil an der Un- ruhe des ewigen friedlosen Wider- sachers hat. Ihre 'tiefsten Gründe und Ursachen sind Hochmut, Haltlosigkeit, Einbildung, Neid und Habsucht, Selbst- sucht und Haß. Hier treffen wir neben einer oftmals kaum `zu, überbietenden geistigen Lehre eine nihilistische Ein- stellung. Ekel am Leben, Machtgier, Rauschgiftsucht, hemmungsloses Sich- ausleben und den Willen zur Gewalt- tat und revolutionäre Umstürze. Hier ist es Aufga:be denkender junger Men- sehen, die Geister zu unterscheiden. Diesen Apologeten der rohen Ge- walt, dieser kleinen Minderheit der Extremisten, diesen manipulierten Ele- menten, welche die Hüter der Ord- nung niederschlagen, die brennende Fackeln in die Häuser werfen, gehört mit Entschiedenheit entgegengetreten; denn so kann es beginnen. Daher mah- ne ich: Wehrt den Anfängen! „Wir haben nichts gegen die Gewalt des Geistes, auch wenn sich dieser kritisch äußert, aber alles gegen dent Geist der Gewalt". Wer lange unter - ihr nter ihr lebte, weiß, daß Gewalt zu nichts führt. Der weiß, daß solche Systeme einen Schatten von Tod und Schwei- gen auf die Nation werfen, hinter der öffentliche Versprechen und mora1i- s'che Korruption gedeihen. Alle Völker, die hinter dem Eiser- nen Vorhang leben, suchen, jedes auf seine Weise, zu innerer Freiheit zu- rückzukommen. Ist es nicht paradox? Während die Kommunistische Welt- hälfte aus dem Gefängnis der Gewalt nach der freien Luft der Vernunft strebt, wird die freie Welthälfte vn Wellen wildgewordener junger Leute geschüttelt, die im Gefängnis der Ge- walt eingeschlossen zu werden begeh- ren. Es nützt nichts zu argumentieren, sie wollten eigentlich etwas anderes. Sie wissen selbst nicht, was sie wollen. Nichts ist jämmerlicher, leerer von Ideen und Zwecken als die Antwort die man erhält. Die einzig klaren Wor- te, die man von diesen Radikalinski hört, sind Gewalt, Revolution und ein Rätesystem. Zu predigen, daß man das Haupt nur noch tragen, könne, nach- dem man zuerst jemandem den Kopf eingeschlagen habe, ist aber eine er- bärmliche Philosophie. Nur die radika- le Absage an die subjektive Willkür öffnet den Ausweg aus dem Labyrinth geistiger Verwirrungen und Irrungen,. Es ist wohl so, wie mir unlängst ein Freund sagte, daß der Grund der 1Jn- ruhe darin liege, daß man keine ver- pflichtenden Normen objektiver Art mehr anzuerkennen bereit sei. Sitt- liche Freiheit bedeutet keine Willkür, sondern die freie Bindung an objektiv geltende Maßstäbe. Wie heißt es in Webers „Dreizehn Linden"? „Freiheit ist der Zweck des Zwanges, wie man eine Rebe bindet, daß sie statt im Staub zu kriechen, frei sich in die Lüfte win- det." Die Frage „quo vadis?" steht im
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