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Seite 24 Kitzbüheler Anzeiger Samstag, 14. November 1970 Die Funktionseinheit Ski - Bindung - Schuh Von Dr. Anseim Vogel, Vortrag, gehalten auf dem Gmundner Seminar am 14. und 15. September 1970 Skier, Bindungen und zugehörige Schuhe haben sich in den letzten Jah- ren zu Gegenständen von ausgespro- chen technischer Prägung entwickelt. Ob man dies nun bedauert oder nicht, der Umgang mit diesen Sportartikeln erfordert zunehmend technische Kennt- nisse und Verständnis für die physi- kalischen Zusammenhänge. Diese Tat- sache hat im Falle der Sicherheitsfunk- tion der sogenannten Bindungseinheit bereits zu erheblichen Konsequenzen geführt: Ich denke dabei vor allem an die Arbeit des Internationalen Arbeits- kreises Sicherheit beim Skilauf (lAS) und in diesem Zusammenhang an die Messungen von Fahrkräften und Fahr- energien sowie der Bruchwerte mensch- licher Schienbeinknochen, die u. a. zu wissenschaftlich fundierten Einstell- tabellen für Sicherheitsbindungen führ- ten. Der Skischuh ist wegen seines über- aus starken Einflusses auf die Aus- lösekraft und -funktion der Bindung ganz automatisch in den Sog dieser Sicherheitsbestrebungen und damit technischer Vorschriften gelangt. Dies beweist der vom lAS in Zusammen- arbeit mit den Herstellern erarbeitete Normenentwurf für Skischuhsohlen, der die für eine einwandfreie Funk- tion jeder Sicherheitsbindung erforder- lichen Maße und Materialeigenschaf- ten enthält. Die gegenseitigen Beeinflussungen der Bindung und der durch sie ver- bundenen Elemente beschränken sich jedoch nicht nur auf das Gebiet der Sicherheit, allenthalben wird auch das Fahrverhalten berührt. So hat einer- seits die Skilänge entscheidenden Ein- fluß auf die erforderlichen Steuerkräf- te und damit auf den möglichen Si- cherheitsbereich der Einstellung der Bindung, die Art und Weise und der Ort der Montage der Bindung zum Beispiel wirken sich anderseits deut- lich auf das Fahrverhalten des Skis aus. Aber allein schon der Gebrauchs- wert der Skier und deren hoher Preis machen es erforderlich, daß bei der Beschreibung eines Skis und seiner Ei- genschaften klar definierte Größen und vergleichbare Zahlen an die Stelle nichtssagender Formulierungen rücken. Der Käufer und vor allem der Händ- ler müssen sich den Ski an Hand sinn- voller Kriterien auswählen können. Die aus Bindung, Schuh und Ski bestehende Einheit ist eine kompli- zierte Uebertragungskette von Aktions- und Reaktionskräften. Sie muß wegen der gegenseitigen Beeinflussung ihrer Elemente und wegen der vom ganzen System zu erfüllenden Aufgabe, so- wohl was die Sicherheit als auch was das Fahrverhalten betrifft, unter ge- meinsamen Gesichtspunkten betrach- tet werden. Natürlich kann ich im Rahmen die- ses Ueberblicks nicht die grundlegen- den Gesetze der Elemente und ihres Zusammenwirkens beschreiben, ich möchte statt dessen die wichtigsten Eigenschaften der Einzelelemente so- wie deren Bedeutung anführen und auf einige der augenfälligsten gegen- seitigen Beeinflussungen hinweisen. DIE SICHERHEITSBINDUNG Aufgabe und Funktion Die Bindung dient der exakten Über- tragung von Kräften zwischen Skifah- rer und Ski. Wegen des langen Hebels, den der Ski darstellt, können diese Kräfte sehr groß werden. Wenn der Fuß die zu deren Übertragung notwen- dige Festigkeit nicht besitzt, kommt es zu sogenannten typischen Skiverlet- zungen. Der Schutz vor diesen Ver- letzungen ist die Aufgabe der Sicher- heitsbindung. Diese muß dazu die Ver- bindung des Skischuhs mit dem Ski bei Erreichen eines fest einstellbaren Grenzwertes der Belastung zuverlässig freigeben. Sie muß aber bei den nor- malerweise zum Skifahren erforderli- chen Belastungen zuverlässig festhal- ten. Zuverlässig freigeben bedeutet, daß der Schuh unter geringer Reibung schnell und ohne Behinderung aus der Bindung gelangt. Dazu muß die Rei- bung zwischen Schuhsohle und Ski- oberfläche zumindest durch einen Gleitstreifen (Haftreibungsfaktor ge- gen Sohle kleiner als 0,14) erträglich gering und konstant gehalten sein. Au- ßerdem darf die Auslösekraft nur un- wesentlich von der Reibung zwischen Bindungsteilen und Schuh und von möglichen Aenderungen des Andrucks abhängen, mit dem der Schuh durch die Absatzbindung gegen den Vorder- backen gedrückt wird. Zuverlässig festhalten bedeutet u. a., daß bei Kräf- ten, die weniger als 1/10 Sekunde an- dauern (Stöße), unter keinen Umstän- den ausgelöst wird, da diese Stöße ein Gelenk nicht in die sogenannte Endtage bringen und somit nicht zu Verletzungen führen können. Sie müs- sen wie vom Stoßdämpfer eines Fahr- zeuges geschluckt werden. Dazu muß sich der Schuh relativ zum Ski um eine kleine Strecke (mindestens 4- 6 mm nach jeder Seite an der Schuh- spitze) bewegen können und nach dem Sto1 wieder in die Ausgangslage zu- rückgelangen. Dies darf nicht auf Ko- sten des Fahrverhaltens der Bindung geschehen: Um exakte Kraftübertra- gungen (kein lockerer Sitz) auch in der Normallage zu gewährleisten, muß die Kraft bei Auslenkung zunächst auf sehr kleinem Weg stark, dann schwä- cher bis zum Auslösewert ansteigen. Sicherheitsbindungen müssen min- destens in der Skiebene und senkrecht dazu auslösen, ihre Einstellung muß durch eine dauerhafte Markierung sichtbar und gegen ungewollte Verän- derung gesichert sein. Gewollte Ver- stellung soll nur mit einem Werkzeug möglich sein. Fahrkräfte und -Energien Die zum normalen Skifahren (ohne Sturz) erforderlichen Kräfte nennt man Steuerkräfte. Sie sind gering beim Geradeausfahren, größer beim Stemmen, Schwingen und Entlasten. Die Bindung muß auch bei ihrem Ma- ximalwert noch festhalten. Man nennt deshalb den bei normalem Fahren auf- tretenden Höchstwert die Festhalte- kraft. Sie nimmt mit steigender Ge- shwindigkeit zu und ist beim Schwin- gen viel niedriger als beim Stemmen. Ein guter, mäßig schnell fahrender Läufer braucht also weniger Kraft als ein gleich schnell fahrender schlechter Läufer. Die größten Kräfte treten bei sehr schnellen Fahrern mit geringem Können auf - einer leider nicht sel- tenen Kombination. An der Fußspitze beträgt die Festhaltekraft in seitlicher Richtung bei guten Fahrern (nicht Rennäufer) 15 bis 18 kp, bei kraft- vollen Fahrern bis 26 kp und erreicht bei Fehlern wie Belastung der Außen- kante 30 kp. An der Ferse in vertika- ler Richtung mißt man Werte zwischen 60 und 120 kp. (kp = Kilopond) Die in den zu schluckenden Fahr- stößen auftretenden Energien liegen normalerweise unter 5 kp cm. Diese Energie muß eine Bindung mindestens elastisch (stoßschluckend) aufnehmen, ehe sie auslöst. Dann ist es möglich, mit einer Einstellung, die nicht über den angegebenen Festhaltekräften liegt, einwandfrei zu fahren. Bruchkräfte Die Bindung soll bei der zum Fah- ren erforderlichen Festhaltekraft hal- ten, s--'e muß jedoch auslösen bei einer Kraft, die kleiner ist als diejenige, die zu einer typischen Skiverletzung führt. Da das Sprunggelenk durch den mo- dernen Skischuh einen gewissen Schutz erhält, ist die Verletzbarkeit des Un- terschenkeiknochens (Schienbein) aus- schlaggebend für die Bindungseinstel- lung. Natürlich kann der Fahrer dem Unterschenkel durch Anspannen der Muskulatur eine stark erhöhte Festig- keit verleihen und somit häufig ver- h:ndern, daß das Gelenk in Endlage gelangt. Dies ist aber nicht immer der Fall. Fortsetzung folgt!
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