Kitzbüheler Anzeiger

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Seite 16 Kitzbüheler Anzeiger Samstag, 15. Dezember 1973 Von der 5. Jungb00 0. ürgerfeier in Kitzbuhel Am Sonntag, 9. Dezember fand die fünfte Jungbürgerfeier Kitzbühels statt. Im Hotel „Tenne" wurde die Feier von der Stadtmusik mit der Aufführung der „Kitzbüheler Fanfare" (Komponist und Dirigent Stadtkapellmeister Sepp Ga- steiger) eröffnet. Bgm. Hermann Reisch gab seiner Freude Ausdruck über die große Zahl der erschienenen Jungbürgerinnen und Jungbürger (über 200). Seine Freude galt weiters der Anwesenheit der Ehren- gäste: Ehrenringträger Bezirkshaupt- mann Hofrat Dr. Hans v. Trentina.glia, den Stadt- und Gemeinderäten, den Landtagsabgeordneten Hans Brettauer und Dr. Otto Wendung, den Direktoren der Schulen und nicht zuletzt dem Schriftleiter der Stadtbücher Ehrenring- träger Hofrat Dr. Eduard Widm.oser. In einer kurzen Ansprache umriß er den Wert einer Jungbürgerfeier, die hiermit symbolisch Aufnahme als voll- wertige Bürger der Stadt finden und vollverantwortlich an den Geschicken teilnehmen. Der Bürgermeister begrüßte auch herzlich die Stadtmusik mit Stadt- kapellmeister Sepp Gasteiger und Ob- mann Andre Feiler und sprach allen Musikern im voraus den Dank für die musikalische Gestaltung der Feier aus. Viele Jungbürgerinnen und Jungbürger haben ihr Fernbleiben wegen ihrer Pflichten in der Familie oder auf dem Arbeitsplatz entschuldigt. Der Weltcup- sieger Hansi Hinterseer hat gerade in diesen Tagen die sportliche Ehre seiner Heimatstadt gewahrt und sein Skikame- rad Peter Feyersinger (befde gehören dem Jahrgang 1954 an) ist ebenfalls in diesem Sinne im Einsatz. Beide konnten, wie eben viele andere, nicht an der Jungbürgerfeier teilnehmen. Abschlie- ßend appellierte der Bürgermeister an die Jugend, die Tugend der Toleranz zu üben, den Mitmenschen beizustehen und pflichtbewußte Staatsbürger zu sein, in der Gegenwart und in der Zukunft. Festansprache, gehalten von Vzbgm. LAbg. Hans Brettauer Was Du ererbt von Deinen Vätern - erwirb es, um es zu besitzen! Wenn ich diese mahnenden Worte des größten Dramatikers deutscher Zunge zum Leitmotiv für meine Ansprache ge- wählt habe, so befürchten Sie bitte nicht, eine Rede voller Pathos über sich erge- hen lassen zu müssen. Ich weiß wohl, daß die heutige Jugend nüchtern denkt und von uns Aelteren Ehrlichkeit und Verständnis für ihre Probleme erwartet. Und dennoch glaube ich, daß dieses Dichterwort überall und zu allen Zeiten Gültigkeit besitzt und Anlaß zum Nach- denken sein sollte. Warum Jungbürgerfeier? Diese Frage wird häufig gerade von jüngeren Men- schen gestellt und die Meinung vertre- ten, es handle sich vielleicht um eine Alibihandlung oder um einen Gnaden- akt der Obrigkeit, bei dem man eine Jause und ein Jungbürgerbuch erhalte. Das ist jedoch keineswegs der Sinn die- ser Feier. Die Jungbürgerfeier soll Ihnen, meine lieben Jungbürgerinnen und Jungbür- ger und auch uns Aelteren in Erinne- rung bringen, daß Sie nunmehr mit der Vollendung des 19. Lebensjahres Ihre vollen staatsbürgerlichen Rechte erlangt haben. Sie haben nun das Recht, die de- mokratischen Vertretungen in der Ge- meindestube, im Landtag und im Natio- nalrat nach Ihrem Ermessen zu wählen und somit über das weitere Schicksal und Wohlergehen von uns allen mitzu- bestimmen. Sie haben nun das Recht erlangt, über Ihr Vermögen nach eigenem Gutdünken zu entscheiden. Sie haben das Recht, eine Ehe zu schließen und über die Ge- staltung Ihres weiteren Lebens allein- verantwortlich zu bestimmen. Sie sind also in die vollen staatsbürgerlichen Rechte eingetreten, aber auch in die vol- len staatsbürgerlichen Pflichten. Und das erscheint mit doch Grund ge- nug zu sein, um mit Ihnen diese Feier- stunde zu begehen, denn die Erlangung der Volljährigkeit ist doch für Sie alle der Beginn eines neuen Lebensabschnit- tes. Ich habe Ihnen einige der nunmehr erlangten staatsbürgerlichen Rechte auf- gezeigt, es liegt mir aber ferne, Ihnen ihre staatsbürgerlichen Pflichten aufzu- zählen. Es sind überdies überwiegend Pflich- ten, die sich aus einer moralischen Ein- stellung zum Mitmenschen und zur Ge- meinschaft ergeben. Doch gestatten Sie mir, daß ich Ih- nen auf Ihrem weiteren Lebensweg vier Wünsche der älteren Generation mitgebe. Es sind dies lediglich. Wün- sche, die sich auf die Erhaltung und Bewahrung des Erbes Eurer Väter be- ziehen. Es sind aber keineswegs Wün- sche, durch die eine moderne Entwick- lung und ein gesunder Fortschritt ver- hindert werden sollen. Der erste Wunsch: Wir leben allein einer Zeit des relativen Wohlstandes, aber auch in einer Zeit des Materialis- mus. Der Drang nach Geld, Gut und Sachwerten ist gewaltig. Der Mensch wird mancherorts nur mehr nach dem Inhalt seiner Brieftasche und nachdem Wert seines Autos gemessen. Das bringt eine Gefahr in sich: Die Gefahr der Verhärtung der Herzen. Und der Satte versteht den Hungrigen nicht mehr. Uns Oesterreichern rühmt man Ge- mütlichkeit nach; in Wirklichkeit sind es die guten alten Volkseigenschaften Toleranz und Güte. Bewahrt in Eurem Leben das moralische und geistige Er- be der Toleranz und Güte zum Mit- menschen. Denkt immer daran, daß es Menschen gibt, die am Rande der Wohl- standsgesellschaft leben und in geisti- ger oder materieller Not sind. Helft Eurem Mitbürger, wo immer es nötig und wo immer Ihr könnt! Denkt im- mer daran, daß für einen Mitmenschen eine scheinbare Kleinigkeit ein großes Problem sein kann. Die meisten von Ihnen haben sicher- ich Ihre politische Meinungsbildung vollzogen oder sind dabei, si6h eine politische zu bilden. Zu welcher politi- schen Ueberzeugung Sie sich aber im- mer entschließen werden, beurteilen Sie Ihren Mitbürger nie, zuerst nach seiner politischen Farbe. Begegnen Sie ihm zuerst als Mensch, als Persönlich- keit und beurteilen Sie ihn zuerst nach seinem Charakter. Bewahren Sie also bitte unser geistiges und moralisches Erbe der Toleranz, der Güte und des Mitgefühles für Ihre Mitmenschen. Der zweite Wunsch: Wir Oesterrei- cher haben eine leidvolle und schmerz- liche Geschichte hinter uns und wir Äl- teren haben lange gebraucht, um die Vergangenheit zu bewältigen. Nach dem Zusammenbruch der Habsburger Monarchie war Oesterreich der Rumpf- staat eines Großreiches, ein Staat, den wahrlich „keiner wollte" und das. Wort Grillparzers „Der Oesterreicher hat ein Vaterland, er liebt es und hat auch Ursache es zu lieben", wurde nur noch von manchen Mittelschülerinnen in der Schule gelesen. Die durch eine lange Geschichtsperiode auf die Groß- raumwirtschaft eines 45-Mil1ibnen- Staates eingestellte Wirtschaft funktio- nierte nicht und die Menschen konnten sich in dem jur±gen Kleinstaat einfach nicht zurechtfinden; sie suchten ihr Heil in den radikalen Zielen aller po- litischen Parteien. Nach einer kurzen Periode der wirtschaftlichen Erholung kam die Weltwirtschaftskrise. Die Fol- ge war ein Heer von 700.000 rbeits- losen und Not und Elend in unserem Staat. Und damals haben unsere Väter einen Fehler gemacht, aus dem wir alle lernen sollen. Anstatt sich in der Not zusammenzuschließen und alle An- strengungen zu unternehmen, gemein- sam so gut es möglich war, Not und Elend zu mildern, bezichtigte eine Volksgruppe die andere, am Elend maßgeblich schuld zu sein, und der Radikalismus in allen politischen Grup- pierungen schwoll an. Er führte schließlich zu einem bluti- gen Bürgerkrieg, bei dem der Bruder auf den Bruder und der Vater auf den Sohn schoß. Unser im Grunde gutmütiges und friedliches Volk hatte sich auseinan- dergelebt. Eine hilflose Einparteien- regierung und das materielle Elend in den folgenden Jahren waren der Nähr- boden und die Ursache für ein noch größeres Unglück, das über unser Va- terland hereinbrach. Die Ereignisse von 1938 sind längst Geschichte gewor- den. Doch aus dem Abstand der Jahr- zehnte beurteilt, wäre es ungerecht,
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