Kitzbüheler Anzeiger

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Seite 8 KitzbüheIer Anzeiger Samstag, 11. Mai 1974 Auf einer Tagung der Oesterreichi- schen Gesellschaft und der Deutschen Akademie für Raumordnung und Lan- desplanung führte unser ständiger Fe- riengast Regierungs-Direktor Dr. Eber- hard Reichel folgendes aus. Die Ausfüh- rungen beruhen auf seinen wissenschaft- lichen und kommunalpolitischen Erfah- rungen als Regierungsdirektor der Stadt München und auf seinen vieljährigen Gastaufenthalt im Raum Kitzbühel. Die Tagung wurde von Landtagspräsident DDr. Alois Lugger eröffnet. Ziele der Raumordnung Der Fremdenverkehr ist im europäi- schen Gesamtinteresse und wegen des wirtschaftlichen Ertrages Ziel Nr. 1. Da- zu tritt die Landwirtschaft als eigen- ständiger Faktor, der zugleich wegen der Landschaftspflege dem Fremdenver- kehr dient. Gewerbe und Industrie ste- hen te hen dazu nicht im Gegensatz, sondern ergänzen die Wirtschaftsgrundlage des Landes. Ein Beispiel ist das Spanplat- tenwerk Oberndorf im Falle seiner Um- weltsanierung, ein Gegenbeispiel der abgewehrte Bergbauplan mit den be- kannten Umweltschäden. Ziel der Raumordnung muß es sein, das Gleichgewicht zwischen den Wirt- schaftszweigen zu finden. „Die Erhal- tung der Lebensqualität ist Aufgabe der wissenschaftlichen Raumforschung." (Nußbaumer, Tagungsteilnehmer) Wachstum und Raumordnung Die Wachstumsbegeisterung der sech- ziger Jahre ist in Bayern überwunden, in Tirol aber noch nicht. Derzeit rech- net hier jeder den Zuwachs, das Wachs- tum zu seiner Rechtfertigung und zur Begründung neuer Forderungen vor. Eine Besinnung auf die Grenzen des Wachstums, insbesondere aus ökologi- scher Sicht, ist unumgänglich. Wohin wir andernfalls kommen, zeigt z. B. München, das dem Ende mit Wasser, Abwasser, Abfall, Strom, Gas zusteuert und mit dem Problem der Gastarbeiter nicht mehr fertig wird. Unter dem „Wasserschloß von Europa", der Schweiz, mußte Zürich einen Stromspartag ein- führen! In Italien hat die Ueberent- wicklung der Fremdenverkehrsgebiete bereits zu einem krisenhaften Rück- gang der Gästefrequenz geführt. Was diese Beispiele andeuten, wird mit Si- cherheit über kurz oder lang auch dort eintreten, wo man eine übersteigerte Entwicklung sich selbst überläßt. „Der Alpenraum darf nicht in wenigen Jahr- zehnten heruntergewirtschaftet werden" (Lugger), Ökologie und Wirtschaft müs- - sen Ziele der Forschung sein, die Belast- barkeit unseres Landes muß sichtbar gemacht, die Entwicklung, entsprechend gesteuert werden. „Wenn man die Viel- falt der Nutzungen betrachtet, die sich im Alpenraum auf engster Fläche zu- sammendrängen, und wenn man diesen Nutzungen in entsprechender Weise ge- recht werden will, ohne dabei aber die natürlichen Kreisläufe zu gefährden, muß man ökologische Daten erfassen und sie zur Grundlage weiterer Ent- scheidungen nach" (Geiersberger). Aber: „Die Forschung und Planung im Alpenraum wird heute gern nur für einzelne Fachrichtungen, Wirtschafts- zweige oder Gebietsteile betrieben" (Danzl). Ziel der Forschung muß dage- gen die Zusammenschau aller Umstände und deren konsequente Anwendung bei allen Bestrebungen und Maßnahmen in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft sein, nicht aber Entscheidungen aus der spe- ziellen pe ziellen Sicht einzelner Gruppen oder aus örtlichen Interessen. - Folgen der Ueberentwicklung Ziel Nr. 1 (Fremdenverkehr) erfordert die Erhaltung des Landschaftscharak- ters. Deshalb muß der großen Zersiede- lung der Talböden Einhalt geboten wer- den. Die Sperre im Tiroler Raumord- nungsgesetz für neue Bauflächen darf nicht durch fast tägliche Ausnahmen in der Flächenwidmung durchlöchert werden. Andere Folgen sind die Ueber- belastung der Badeseen und Badebek- ken, die schnelle Zerstörung der Ski- pisten nach Neuschneef all, die zuneh- mende Verkehrsbelastung und Lärm- entwicklung, die Verunreinigung der Atemluft durch immer neue Oelheizun- gen, die zunehmende Einschränkung des ortsnahen Bewegungsraumes der Fe- riengäste usw. Durchgangsland mit „Brücken- funktion" Das klingt so schön. Diese Funktion ist gekennzeichnet durch den Straßen- verkehr über den Brenner, Tauern- schleuse und Tauernautobahn, mögli- cherweise auch über Reutte - Fernpaß - Reschenpaß. Diese drei (oder vier) Wege sind europäische Notwendigkei- ten, während der Felbertauern allein eine Tiroler Notwendigkeit darstellt. Als weitere - Durchgangsstraße hach dem Süden wirkt diese Straße aber deutlich zerstörend für das Brixental, das Rei- ther Tal, das Tal der Großache von St. Johann zum Paß Thurn, Mittersill, das Tauerntal, Kötschach und Mautern. Es stellt sich die Frage: Welches In- teresse hat eigentlich Tirol an diesem Durchgangsverkehr? Warum sollte der Lastentransport Triest—BRD von Tirol gefördert werden? Sinnvoll wäre viel- mehr ein Ausbau der drei (oder vier) erstgenannten Verbindungen auf das technisch mögliche Höchstmaß und da- mit die Konzentration auf diese Bän- der sowie auf den künftigen Basistunnel der Brennerautobahn mit deren sehr ho- hen Leistung. Falsch ist es, anderwärts neue Kapazitäten zu schaffen (Felber- tauernstraße, Windau, Oberpinzgau, Zillertal) und damit weitere Gebiete zu zerstören. Es ist unzumutbar, daß die Verkehrs- probleme, die sich derzeit in Kitzbühel ergeben - eine, der Befürworter des Felbertauern - nun auf andere Ge- meinden verlagert werden sollen mit der Folge, daß wiederum neuer zusätz- licher Verkehr im Erholungsgebiet mit schwerwiegenden Schäden entsteht. Am Ende wird das ganze Ferienland von Kufstein bis zum Plöcken ohne jeden wirtschaftlichen Nutzen in ähnlicher Weise wie durch den abgewehrten Berg- bau entwertet sein, gleichgültig, welchen Gemeinden am Schluß der „Schwarze Peter" zugeschoben wird. Verbesserung der Verkehrsinfrastruktur Sicher ist eine gewisse verkehrliche Erschließung auf Bezirks--und Orts- ebene geboten, aber auch hier sind die G renzen streng zu beachten. Das Heil liegt nicht in einem Netz voll ausgebau- ter Straßen. Aus den Erfahrungen der letzten beiden Jahrzehnte hat sich ein- deutig ergeben, daß neue und bessere Straßen nicht entlasten, sondern neuen Verkehr anziehen, neue Stauungen, neue Plagen hervorrufen. Eine Analyse von Planungen im Bodenseegebiet hat gezeigt, „daß in Zukunft nur ganz klei- ne, inselartige Bereiche vom Verkehrs- lärm verschont sein würden. Sind wir wirklich bereit, einen derartig fragwür- digen Preis für ein an der Vollmotori- sierung orientiei"tes Straßennetz zu zah- len"? (Buchwald) Es muß also ein Kom- promiß zwischen notwendigem Ausbau und negativen Folgen gefunden werden, und zwar ein möglichst bescheiden aus- gebautes Netz entsprechend der in Oesterreich vorbildlich entwickelten Kunst, mit einfacheren Strukturen fer- tig zu werden. Die Verkehrslage In einer Entschließung zum Umwelt- schutz hat sich der Tiroler Landtag be- reits damit befaßt. Lärm, Luftvergif- tung und Unfallgefährdung haben im Erholungsgebiet ein besonderes Gewicht. Zusätzlich stellt sich die Frage: Wo bleibt eigentlich der Fußgänger? Wir treffen ihn an die Seite gedrängt, mit Regen, Schnee und Dreck bespritzt, fast in Tuchfühlung mit dem Verkehr in un- gesunder Luft und unter erheblicher Gefahr. Warum eigentlich wird hier keine umfassende Abhilfe durch Wie- sen- und Seitenwege einfacher Art ge- troffen? Und wo bleibt der Fußgänger in der Ortsplanung? Wird dort wirklich alles getan, um ihm Bewegungsmöglich- keit abseits vom Straßenverkehr zu bieten? Enden nicht allzu viele Fahr- wege blind, wo sehr leicht Verbindun- gen zu Fußwegenetzen möglich wären? Gibt es wirklich keine technischen und verwaltungsmäßigen Möglichkeiten zur Bekämpfung des teilweise unverschäm- ten Krachs der Motorräder? Man be- denke, daß im Gebirge jeglicher Ver- Zur Raumordnung und Landesentwicklung in Tirol Von Reg.-Direktor a. D. Dr. E. Reichel, Reith 37
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