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Seite 12 Kitzl:üheler Anzeiger Samstag, 16. Dezember 1978 Der Seminarleiter Friedrich-Karl Freiherr von Solen1acher-AnweiIer, München (ste- hend), mit dem Referenten Larideshaupt- mannstellvertreter Prof. Dr. Fritz Prio' (rechts) im Dekanatssaal in St. Johann im Dritten Reich bescndere Bedeutung. wobei allerdings nicht zu übersehen ist, daß dieseBe- strebungen nahezu ausschließlich auf politi- sche und weltanschaLliche Beeinflussungaus- gerichtet waren. So wurden Volkslieder in die markige Form des Marschliedes umgegossen. Bräuche - besonders solche germanischen LTrspigs wie etwa der Maibaum - wurden von oben her in Gegenden eingeführt. in de- nen sie riemals zuvor heimisch waren. Ich darf eine weitere Überlegung an- schießen. Der mit cer VolksIultur eligstens verbundene Begriff des ‚Volkstums als Aus- druck eines naturhaf: unabänderlich Gegebe- nen, steht in polarem Verhältnis zur Dynamik des gerade die Gegenwart beherrschenden Fortsehrittdenkens. Das Spannungsfeld zwi- schen den in der Überlieferung beharrenden und den von Zukunft sgldubigeit getragenen Kräften ist offensichthch. Tracition unc Fort- schritt werden vielfach als uiiüberbi-ibkbare Gegensätze gesehen. So aktuell diese Proble- matik auch heute erscheinen mag, so darfnicht vergessen werden, da3 bereits Rousseau und Herder mit ihren Theorien sich in bewußten Widerspruch zu den herrschenden Strcmun- gen ihrerZeitstellten. Vielleich:habena - erge- race aus diesem vehemeten Zusammentreffen der Anschauungen beide Vorstellungswelten ihre Wirkkraft bezogen und wir müssen uns darüber im klaren sein, daß gerade in der Ge- genwart eine sinnvolle Brauchtumspflege sich permanent diesem Problemkreis stellen muß. So ergibt sich daraus die Forderung, sich auch den neuen Erscheinungen aufgeschlossen aber richt kritiklos zustellen. Volk&cultLrpfle- ge unterscheidet sich eben vom rein wissen- schafflich-theoretischen Bereich dadurch, daß sie mitten im Leben s:eht und danach ausge- richtet ist die von ihranerkannten Werte in das Volksleben hineinzutragen. Dieser Prozeß ist nicht ohne Risiken. Dem Brauchtumspfleger erwächst die Aufgabe, sich an ien bereits e- wonnen Erkenntnissen der wissenschaftli- chen Volkskunde zu orientieren und sein erworbenes Wissen sinnvoll im eigenen Wr- kungsbereich anzuwenden. Lassen sie mich zum Abschluß des Refe-a- tes noch einige Gedanken zu den Aufguben der Brauchtumspflege von heute anbringen. Das Wort „Pflege" setz- ja gewissermaßen ein Krankheitssymptom voraus. Wir setzen, wie schon v•Drher angedeutei,voraus, daß ein be- stimmter Bereich des Kultur- und Geistesle- bens gefährdet ist und daß zu seiner Bewah- rung uni Erhaltung gezielte Maßnahmen ge- setzt werden müssen. Tatsächlich haben auf den verschiedenen Gebieten zum Teilüher- aus erfolgre:che Sanierungsersuche einge- setz:. Greifen wir einige Beisie1e heraus. Der von Hörmann befürchtete Niedergang der Trachten trat tatsächli± ein. Etwa 53 Jahre hindurch lebte sie fast nur als Uniform der zahlreichen Musikkapellen, Schützenkompa- nien uni Trachtenvereine. Nur ganz wenige Bäuerinnen trugen ihre Festtagstracht zu 1e- sonderen Anlässen. Heute s:ellen wirallent- halben fest, wie die Tracht wieder als getrage- nes Kleidungsstück Ful faßt. Etwa gerade aie: im Uriterlanc, wo auch unge Biiueriniienuncl Bürgersfrauen sich wieder eine Trach: anschaffen, ja zum Teil selbst schneidern, uni die Tracht zu weltlichen und kirchlichen Fe- sten auch anziehen. Trachtemiähkurse in ien verschie Jens-.en Schulen erfreuen sich grc•ßer Beliebtheit. Das Wiedererstarken der Volks- musik und des Volkstanzes habe ich schon kurz aufgezeigt. Manche Bräuche lebten nur mehr in der zuweilen recht verstümmelten und weitgehend sinnerileerten Überlieferung von Trachtenvereinen -jnd wurden zum rei- nen Schaubrauch, der nir mehr ien zahllosen Gästen des Landes geboten wurde. Die Isola- tion der Brauchtumsvereinigungen abzuwen- den, war eine der wichtigsten Aufgaben der Braucritumspflege. Eine Reihe von erfolgrei- chen Ansätzen ist hier festzustellen. Es istge- lungen, die Brauchtumsvereinigungen wieder in der Organismus des Geme:nschaftslebens einzubinden. Die Mitwirkung von Trachten- vereinen im Jahresablauf der Feste ist heute wieder selbstverständlich. Denn jede volks- kulturelle Form ist einer bestimmten Situation des Volkslebens entsprungen. Es ist oberstes Gebot für die Arbeit gerade der Heimat- und Trachtenvereine, die Bezogenheit von volks- kulturellem Tun und brauchtumsgebunde- nem Anlaß immer im Auge zu behalten. Denn es wäre völlig verfehlt und widersinnig, künst- lich frühere Lebensformen zu beschwören und nachzuvollziehen. Doch glaube ich, daß in einzelnen brauchtümlichen Formen, die auch in der Gegenwart lebendig sind, sich noch wesentliche Merkmale dieses ursprüng- lich ganzheitlichen Daseins erhalten haben. Dies erfordert allerdings ein großes Maß an Einfühlungsvermögen, an Kenntnis der örtli- chen Gegebenheiten und auch fachliches Wis- sen. Die Tätigkeit eines Vereins muß über den begrenzten Bereich der eigenen Institution hin- aus auch die größere Gemeinschaft erfassen. So hat man sich in den letzten Jahren erfolg- reich bemüht, in Orten, in denen Brauchtum und Überlieferung sich im Bewußtsein der Be- völkerung erhalten haben, derartige brauch- tümliche Formen wieder zu verlebendigen und mit neuem Sinn zu erfüllen. Ich weiß, daß dies selbstverständlich nur in kleineren Ge- meinschaften zu realisieren ist, aber ich unter- streiche die Notwendigkeit, gerade in unserer nüchternen, an Gefühlswerten so armen Zeit, immer wieder an die tieferen Sinnzusammen- hänge des Jahresbrauchtums zu erinnern. Der Mensch von heute ist weitgehend dem mono- tonen Alltagsleben, dem Gleichmaß des Zeit- ablaufes unterworfen. Brauchtumspflege ist letztlich Gestaltung der Zeit. Sie kann dazu bei- tragen, die Erlebniskräfte im Menschen wie- der zu wecken. Brauchtumspflege setzt weiters ein Leben in der Gemeinschaft voraus und ge- rade das Durchbrechen der Isolation des Ein- zelmenschen in der anonymen Gesellschaft scheint mir eine der wichtigsten Aufgaben unserer Tage zu sein. Eine ganze Reihe von Bräuchen, die erst nach dem Zweiten Welt- krieg entstanden, beweist, daß die Alpenlän- der nach wie vor eine vitale Volkskultur haben. Denken sie nur an das in jedem Ort geübte Dreikönigssingen, an den Martinsumzug, der zumindest in Tirol vor dem Krieg noch unbe- kannt war, an die zahllosen Adventsingen in Stadt und Land, an die Erntedankfeiern und feierlichen Traktor- und Autoweihen, die deutlich die Integrierung der technischen Mit- tel mit brauchtümlichem Denken sichtbar werden lassen. Derartige Erscheinungen als Rückschritte in überlebte Daseinsformen zu werten, käme einer bewußten Verkennung der tatsächlichen Gegebenheiten gleich. Es hieße, einem längst überholten einseitigen Fort- schrittsdenken das Wort zu reden. Ein bedeu- tender deutscher Denker der Gegenwart fand hinsichtlich der Stellung der geisteswissen- schaftlich-historischen Disziplinen im gesam- ten Bildungssystem folgenden treffenden Ver- gleich: „Vergangenheit ohne Zukunft ist tot, Zukunft ohne Vergangenheit aber ist blind". Diesen Satz können wir auch auf den Bereich der Volkskultur übertragen. Gerade in der Dy- namik des gegenwärtigen Prozesses brauchen wir auch den volkskulturellen Bereich, der in seiner Überzeitlichkeit den von einer unauf- haltbaren Entwicklung getriebenen Men-
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