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Samstag, 24. April 1982 Kitzbüheler Anzeiger Seite 3 Fortsetzung von Seite 1 Auferstehung geöffnet wissen wollte, Rie- mer und Eckermann taten es schon nach seinem Tode, das war für unsere ehr- furchtlosen Oberflächner einfach zu früh. Seit es die Medien gibt und die wei- che Welle, scheinen die Mittel, dem Teu- fel Seelen zu entziehen, recht beschränkt, Mephisto braucht nicht mehr zu lamentie- ren, die Goethedemontage der Unmaß- geblichen ist in vollem Gange. Zwar ist die geistige Schicht, die langsam an Goet- hes umfassende Größe heranwächst, im- mer noch dünn, aber sie wächst. Die Sek- tierer natürlich wachsen auch, in der heu- tigen Zeit. Die Naturwissenschaft, glaube ich, hat ihn entdeckt und ebenso die Phi- losophie. Ich muß sagen, für mein Teil, mit Goet- he hatte ich immer irgendwie Glück. Schon daß ich mit den 55 Bänden der Ausgabe letzter Hand von 1832 aufwach- sen konnte, daß ich die Bände durch alle die Fährnisse meines Lebens brachte. Die mich damals sehr belustigende 1. Fassung des Jahrmarktfestes von Plundersweilen fand ich später in den gängigen Ausgaben - zu einer Weimarer habe ich es nie ge- bracht - nicht mehr. Ich war verliebt in den alten Druck, die Goldschnittbände verachtete ich gründlich. Überdies steht in meiner Bibliothek ein Trauerspiel aus dem Jahre 1788 in einem zeitgenössischen Druck. Der Bannstrahl Roms, das die Canossa- Episode behandelt und in dem den Päp- sten das Recht bestritten wird, der Kir- chenbann zu erlassen. Sein Verfasser ist der Leipziger Buchhändler, Verleger und Dramenschreiber Johann Gottfried Dyk, zu dem, wie mein Vater aus seiner Dresd- ner Zeit wußte, genealogische Beziehun- gen bestehen. Sein Drama Essex wurde von Goethe in Weimar aufgeführt, mit ei- nem Epilog aus dessen Feder. Ansonsten war er ein Widersacher der Weimaraner, »der Sudelköche«, wie er sie nennt. Eini- ge Epigramme in den Xenien beziehen sich auf ihn. Als Übersetzer muß er ein le- derner Patron gewesen sein, den »Die französischen Lustspiele von Dyk« ver- spotten: Wir versichern auf Ehre, daß wir einst witzig gewesen, Sind wir auch hier, wir gestehns, herzlich geschmacklos und fad. Bei meinem Versuch vor einigen Jah- ren, in die Ruine Canossa einzudringen, scheinen die Hunde der Umlieger in mir den alten Johann Gottfried, den Antipa- pisten, gerochen zu haben. Bald wäre es wieder zu einem Drama gekommen, was man mit einiger Großzügigkeit als Beweis für den genealogischen Zusammenhang ansehen könnte. In meinem Kremser Gymnasium lasen wir Faust und Iphigenie mit verteilten Rollen, für sie und Gretchen hatten wir in unserer Bubenklasse ein Mädchen sitzen, ich habe es später geheiratet. Meine erste Großfahrt im Alleingang noch vom Gym- nasium aus, eine Fußwanderung von Konstanz nach Bremerhaven, führte mich natürlich auch nach Frankfurt in den Großen Hirschgraben und nach Weimar. Von der Jugendherberge aus durchwan- derte ich die ganze Goethelandschaft, mit dem Kickelhahn, Tiefurth, Ilmenau und Dornburg, war auf dem Frauenplan zu finden und im Goethe-Schiller-Archiv. Hier sah ich die ersten Originalmanus- kripte in Vitrinen ausgebreitet. Wohl von meiner nicht sehr guten Handschrift her habe ich etwas gegen die Graphologie, aber die jugendlich genialische Hand- schrift Goethes faszinierte mich beinahe noch mehr als die spätere. Heute, nach sechs Jahrzehnten, sehe ich noch deutlich das Blatt mit der Erstfassung des Zürcher- see-Gedichtes von der ersten Schweizer- reise Goethes mit den Stolbergs deutlich vor Augen: »Ich saug an meiner Nabel- schnur mir Leben aus der Welt«. Die Na- belschnur war sicher eine Reminiszenz an die medizinischen Vorlesungen in Strass- burg, aber die spätere Fassung, der sie weichen mußte, ist nicht weniger ernäh- rungsphysiologisch betont: »Und frische Nahrung, neues Blut, saug ich aus freier Welt!« Ich kann mir heute noch sehr gut die Stimmung, die mich damals erfaßt hatte, vergegenwärtigen, dennoch drän- gen sich jetzt, bei meinen weißen Haaren, mehr die Schlußverse des Gedichtes in den Vordergrund: »Und im See bespiegelt sich die reifende Frucht« Im Dachboden am Frauenplan waren seinerzeit noch, Anfang der Zwanziger Jahre, die Gerätschaften und bleigefaßten Wasserprismen gerümpelhaft aufgestellt, gerade nicht angeraucht, aber verstaubt, wie in Faust's Studierstube; dennoch be- deuteten sie für mich den ersten Anstoß zur Farbenlehre. Und unten, in einem der Gesellschaftsräume haftete mein Blick wie gebannt an der Lebensmaske von 1807. Mit ihrem dynamisch-dramatischen Ausdruck ist sie mir zeitlebens das wahre Goetheantlitz gebliegen, im Gegensatz zu den Klauer-Büsten und zu den vielerlei olympisierten Bildnissen. Aus denen hat- te ich zur Ergänzung nur das Auge zu ent- nehmen, das Organ, mit dem Goethe »vornehmlich die Welt erfaßte«. Ich kehrte zur Lebendmaske immer wieder zurück, bei meinen sämtlichen Aufenthal- ten in Weimar habe ich sie besucht und Abbildungen zu meiner Freude im Insel- bilderbuch und in einem Band der Arte- misausgabe wiedergefunden. Schon in meiner Frühzeit bestand für mich die Summe der Goetheschen Wort- und Sprachkunst, was den dramatischen Vers betrifft, in Tasso, für die Prosa in der anspringenden Plastik der Briefe von der zweiten Schweizerreise und für die Ly- rik in der Pandora, die für mich eben kein Drama, sondern ein Gedicht ist, das ich, wie H. St. Chamberlain, »bis zur Trun- kenheit liebe«. Darüber kann man natür- lich streiten. Ich pflegte die »Texte«, wür- de man heute sagen, wie ein antiker Leser laut zu lesen, wenn mich gerade niemand für verrückt halten konnte. So kam ich mit Goethe im Herzen und den Blankver- sen im Ohr nach Wien ins Semester - und in die Burg. Vom Sprachmelos des Tasso war ich berauscht wie nach einem Tristan, jahrelang habe ich keinen ausge- lassen. Den Höhepunkt erlebte ich später mit der heiligen Dreifaltigkeit Horst Ka- spar, Raoul Aslan und Ewald Balser. Aber ein Tasso, noch aus der Herterich- Zeit, ist mir besonders in Erinnerung ge- blieben. Ich war, als ständiger Stehparter- regast, vom Claque-Chef, einem kleinen Mann mit dem Mund voller goldener Zähne, gnädig in den Club aufgenommen worden und bekam, nach einiger Zeit, auch wenn ich spät dran war, einen Platz im Kipfel, also in dem Winkel zwischen Brüstung und Uer Rundung der Stehplatz- wand. Da konnte man bequem drin hän- gen, während die hinteren Reihen freiste- hen und die Hälse strecken mußten. Als ich nun wieder einmal dem geliebten Tas- so im letzten Augenblick unmittelbar aus dem Hochstetter-Seziersaal angaloppiert kam, empfing mich der Chef: »Du kannst gleich wieder ins Kipfel, Du riechst s000 nach Anatomie!« Ich war zutiefst er- schüttert. Bisher war ich der Meinung ge- wesen, daß ich meine Gipfelstellung im Club meiner hohen Intelligenz, meiner Klassikerbegeisterung und meinem char- manten Wesen zu verdanken hätte. Und nun fühlte ich mich bloß wegen meiner anatomischen Ausstrahlung in das Kipfel abgeschoben! Aber mein Tasso-Verständ- nis war nunmehr vollkommen; Ich sah den Armen, wie mich, von seiner Gipfel- stellung am Hofe von Ferrara durch An- tonio und die intrigante Leonore in eine Kipfelstellung manövriert. Das war mein großer Trost. Einige Jahre vergingen. Ich war promo- viert, konnte Faust 1 und gute Teile von II mit nur geringer Kunsthilfe auswendig hersagen und hatte meinen Einstieg in die interne Medizin an der Klinik Chvostek gefunden, war dann zu dessen Schüler Weltmann ins Franz-Josef Spital übersie- delt. Dort hatten wir u.a., zu unserer Aus- bildung, 12 Monate an der großen Zen- tralinfektion für Erwachsene, die unserm Haus angeschlossen war, zu verbringen. Fortsetzung folgt
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