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Seite 6 Kitzbüheler Anzeiger Samstag, 3. November 1984 Rund um den Erdball - Die Flucht aus Sibirien vor 50 Jahren Aus dem Tagebuch von Dr. Lothar Ebersberg, Kitzbühel Manchem von Ihnen werden die langen schweren Gefechte der alten Armee im Sommer und Frühherbst 1914 noch in per- sönlicher Erinnerung sein. Was damals geschah, ist ., uns heute klar: Die er- drückende Übermacht der russischen Heere mußte durch den heldenhaften An- griff einer Minderheit zerbrochen oder doch wenigstens verzögert werden, bis es möglich war, Hilfe von der Westfront heran zu schaffen. Dem Frontsoldaten von 1914 aber bot sich nur das Bild eines uferlosen Einbruchs unabsehbarer Feind- massen, und er fühlte sich inmitten einer Katastrophe, der zu entrinnen fast un- möglich schien. In solcher Lage befand sich auch das Salzburger Haus-Regiment, dessen 111. Bataillon ich als Assistenzarzt angehörte, in der ersten Septemberhälfte bei Uhnow in Galizien. Es hat tagelang geregnet, und tagelang waren die Gefechte mit den Rus- sen hin und her gegangen. Nun aber scheint die Sonne wieder, und die er- schöpften Soldaten lagern auf dem Schlachtfeld, weil auch der Feind anschei- nend am Ende seiner Kraft ist. Da werden wir friedlich Lagernden von einem Über- fall überrascht, und ich suchte hinter ei- nem Eisenbahndamm Schutz vor dem feindlichen Feuer. Ich errichtete einen Hilfsplatz, und meine Leute bringen Verwundete ein. Aber da das Gefecht immer lebhafter wird und die Russen von Süden her heftig angreifen, lasse ich den Hilfsplatz abbre- chen und verlege ihn nach Nordwesten, in die Nähe des Dorfes Podudubce. Es wird Nacht, und der Kampf scheint sich immer mehr zu einer großen Aktion zu verdichten. Ich habe meine Sanitäts- mannschaft ausgeschickt, um Verwunde- te aus der Feuerlinie nach rückwärts zu schaffen, aber keiner von den Leuten kehrt zurück. Sie sind wohl gefallen oder liegen selbst verwundet im Gelände. An Arbeit fehlt es trotzdem nicht. Verletzte Osterreicher schleppen sich heran, und ich und ein Kamerad, der sich zu mir ge- sellte, verbinden sie, haben aber keine Möglichkeit, sie wegzuschaffen, weil es uns an Fuhrwerken fehlt. Plötzlich sind die Russen in dem Dorf und um uns herum, keine Verwundeten, sondern Bewaffnete, die im Hin- und Herwogen des Gefechtes bis hierher ge- langt waren. An ein Entkommen ist nicht zu denken, wir werden entwaffnet und mit unseren Verwundeten auf Wagen ab- transportiert. Man bringt uns nach Uhnow, wo wir in einem österreichischen Feldspital arbei- ten. Um diese Zeit glaubte man noch an den Wert sogenannter „internationaler Vereinbarungen, und wir Är zte waren der Ansicht, daß dieser Zustand nur solange dauern würde, bis es die Gefechtslage er- möglichte, uns nach den Bestimmungen der Genfer Konvention auszutauschen, das heißt, uns zu unserer Armee zu entlas- sen. Ein tschechischer Stabsarzt, der Lei- ter des dortigen österreichischen Feldspi- tals, erklärte heftig, daß davon keine Re- de sein kann. Ich erwidere ihm, daß ich es doch versuchen werde, und werde nun bei einem russischen General mit meiner Bitte vorstellig und erhalte auch von ihm die Zusicherung, daß man uns austauschen würde. Es kommt aber anders. Am 15. September 1914 wird das Feldspital abge- brochen, und wir marschieren mit etwa 170 Verwundeten über Rawaruska nach Lemberg. Dieser Transport über das grauenhafte Schlachtfeld, auf schlechten Wegen, die armen Teufel in landesübli- chen Fuhrwerken verpackt, ließ uns die ganze Schrecklichkeit des Krieges fühlen. Es ist Nacht, als wir in Lemberg an- kommen. Die Behandlung, die wir hier er- fahren, ist nicht gerade angenehm. Kurz vorher hatte ein österreichischer Fähnrich hier auf dem Bahnhof einen russischen hohen Offizier niedergeschossen, und die- ser Vorfall wurde nun zum Anlaß für ein besonders scharfes Vorgehen genommen. Eine Patrouille lädt vor unseren Augen die Gewehre, und wir entnehmen den Ge- sprächen der Russen, daß man uns er- schießen werde. Unser Einwand, daß wir ja Ärzte seien, wird verworfen. Ein russi- scher Offizier erklärt, Rote-Kreuz-Binden könne sich jeder auf den Ärmel nähen las- sen, und er habe keine Möglichkeit, unse- re Angaben zu prüfen. Wir werden schließlich abgeführt und landen nach mehrstündigem Herumgeführtwerden bei einem russischen Stationskommandan- ten, der uns verhört und sieben Tage in ei- nem Schulzimmer einsperren läßt. End- lich erscheint ein Kosakenoffizier, der Dr. Lothar Ebersberg, Kitzbühel, 1887 bis 1962. sehr freundlich mit uns ist, und sogar Zi- garetten anbietet, und wir werden nun in das Gebäude der Lemberger Kadetten- schule gebracht und sind in den nächsten Tagen damit beschäftigt, die hier liegen- den österreichischen Verwundeten zu be- treuen. Wie wir später erfuhren, geschah dies infolge einer Vermittlung der polni- schen Zivilbevölkerung bei dem russi- schen General Knorring (?)‚ dem Gouver- neur von Lemberg. Diesem uns sehr wohlwollend gesinnten Herrn bringen wir neuerdings unsere Bitte vor, unserer Armee entlassen zu werden. General Knorring erklärte, daß es grund- sätzlich möglich sei, uns über ein neutra- les Land auszutauschen, er müsse jedoch erst die Erlaubnis hiezu in Petersburg ein- holen und würde uns mittlerweile als Ärz- te benötigen. Mit dieser Entscheidung mußte ich mir den Gedanken, mein Ba- taillon und meine lieben Kameraden wie- derzusehen, aus dem Kopfe schlagen. Wir arbeiteten also drei Wochen in dem russi- schen Roten-Kreuz-Spital, das in der Ka- dettenschule untergebracht ist, und lernen hier einen gewissen Dr. Zalosiechi ken- nen, der ebenfalls Gefangener war, aber als Ruthene russisch sprach und uns in je- der Beziehung ein Schutzengel wurde. Diese Rolle behielt er auch später auf un- serer Fahrt nach Sibirien bei, denn er blieb bis Nikolsk bei uns. Auf der Suche nach einer Lektüre durchstöbere ich die Bibliothek der An- stalt. Und da war es nun, daß ich den er- sten, damals noch völlig unbewußten Schritt zu meiner späteren Flucht tat: Ich nehme einen kleinen Atlas und das Geo- graphiebuch von Seidlitz mit und ver- stecke die beiden Bücher in meinem Ge- päck. Nach drei Wochen werden wir Ärzte, auch diesmal ohne Eskorte, nach Kiew ge- schickt. Wir sind noch immer der Mei- nung, daß unser Aufenthalt in den russi- schen Gefilden nur ein vorläufiger sei, und daß wir eines Tages an die Front ge- bracht und unserer Armee übergeben wer- den würden. Aber dieser Traum sollte bald endgültig erlöschen. Der russische General Buchholzer, Kommandant der Festung Kiew, erklärt uns, Petersburg ha- be entschieden, daß wir nicht ausge- tauscht werden, weil auch die Mittel- mächte die gefangenen russischen Ärzte nicht auslieferten. Wir würden jedoch im europäischen Rußland als Ärzte Verwen- dung finden. In Kiew vervollständigte ich meine mitgeführte Zivilbekleidung um ei- ne Lederjacke und Mütze, welche Gegen- stände mir später von großem Nutzen sein sollten. Die Hoffnung, in Europa zu blei- ben, wird auch zunichte. Nach wenigen Tagen werden wir neuerdings einwaggo- niert und diesmal unter militärischer Be- wachung mit einem großen Gefangenen- transport gegen Osten, gegen den Ural, gegen das unbekannte, weite Asien ab- transportiert. Vier Wochen lang dauert die Fahrt. Unendliche Länderstrecken laufen an un-
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