Kitzbüheler Anzeiger

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Seite 20 Kitzbüheler Anzeiger Samstag, 17. November 1984 Rund um den Erdball - Die Flucht aus Sibirien vor 50 Jahren Aus dem Tagebuch von Dr. Lothar Ebersberg, Kitzbühel 2. Fortsetzung Da ereignet sich der erste Zwischenfall: Mein Kamerad Dr. Maier erkrankt an ei- ner Halsentzündung und kann nicht mit- tun. Ein wesentlicher Aufschub des Un- ternehmens ist nicht ratsam. Schweren Herzens entschloß ich mich auf die Be- gleitung Maiers zu verzichten, und da sich nun ein gewisser Dr. Kassowitz meldet, le- ge ich den entgültigen Tag unseres Aus- marsches mit 19. Dezember 1914 fest. Leider läßt sich Dr. Kassowitz überreden, ein Paar Filzstiefel von Kameraden als Fußbekleidung mitzunehmen, ein Um- stand, der uns später viel Sorge bereiten sollte und unsere Flucht auf ein Haar scheitern ließ. Der Tag des Aufbruchs ist da. Wir war- ten die Dunkelheit ab, um unsere letzten Maßnahmen zu treffen. Bei verhängten Fenstern packen wir ein und gehen an un- sere Kostümierung. Gesicht und Kopf werden sorgfältig rasiert und mit Ocker- farbe chinesisch getont. Unsere Kamera- den bereiten uns wärmende Getränke. Es ist schwer, von all diesen lieben Menschen Abschied zu nehmen und einem unbe- kannten Schicksal entgegen zu gehen. Aber der Gedanke, nun wieder frei zu sein, und heimzukehren, ist zu ver- lockend. Endlich meldet der Diener unserer Ab- teilung, daß die Luft rein sei. Ein letztes Händeschütteln, ein letztes Lebewohl, und wir sind draußen in der kalten, stock- finsteren Nacht. Es ist 11 Uhr. Auf allen Vieren kriechen wir durch den Vorgarten und in den Straßengraben. Dabei fällt mir der schwere Rucksack im- mer wieder auf den Kopf und gibt mir das Gefühl, im Fall einer Entdeckung nicht einmal laufen zu können. Aber die Freu- de, kein Gefangener mehr zu sein, über- windet alles. Noch liegt das härteste Stück Weg vor uns: das nördliche Ende unseres Lagers, das immer gut beleuchtet und von Posten bewacht ist. Wir müssen hart dar- an vorbei, denn ein ansteigendes Gelände, das mit bruchharstigem Schnee bedeckt ist, macht es unmöglich, vom Weg we- sentlich abzuweichen, da wir mit jedem Schritt Lärm verursachen würden und die Posten uns hören könnten. Wir gehen am Hang entlang, gebückt und mit klopfen- den Herzen. Ein Hund kläfft. Wir ma- chen uns ganz klein und eilen so rasch wir können wie flüchtiges Wild an der gefähr- lichen Ecke vorbei. Nun sind wir in tiefe Finsternis gehüllt und die Lichter hinter uns verschwinden. Der schwerste Teil unserer Flucht scheint überwunden zu sein und wir atmen auf, wir geben uns ganz dem Rausch des Au- genblicks hin. Da droht der Himmel unse- re stillen Glücks jählings einzustürzen; zwei schwarze Gestalten mit hohen russi- schen Mützen tauchen aus der Dunkelheit und kommen auf uns zu. Es sind Wach- posten, mit denen wir nicht gerechnet ha- ben. Sie tragen Gewehre und unsere erreg- te Fantasie fühlt schon die Stiche ihrer langen Bajonette. Wir gehen unwillkür- lich langsamer, wir möchten am liebsten umkehren und davonlaufen. Aber das wäre das sichere Ende unserer Unterneh- mung. Mühsam zwingen wir uns vor- wärts. Aber auch die Russen scheinen sich nicht gerade sicher zu fühlen, sie kommen nur zögernd näher. Endlich stehen wir ih- nen gegenüber. Sie sind keineswegs von großer Entschlossenheit, sondern fragen ziemlich schüchtern, ob wir keine Tungu- sen gesehen hätten. Anscheinend sind die- Dr. Lothar Ebersberg, Kitzbühel, 1887 bis 1962. se Tungusen so gefürchtet, daß selbst schwerbewaffneten Männern eine Begeg- nung mit ihnen nicht ratsam und geheuer ist. Wir verneinen in unserem schlechten Russisch, was sie in der Überzeugung, Chi- nesen vor sich zu haben, zu bestärken scheint. Nun sind wir an ihnen vorbei. Durch die Nacht kommt das Rumpeln und Poltern eines Fuhrwerks, und wir werden auch von dem Kutscher befragt, ob wir keine Tungusen bemerkt hätten. Wir verneinen abermals, und es gewährt uns eine gewisse Genugtuung, auch die- sem Mongolen gegenüber als vollwertige Chinesen zu gelten. Dabei ist es sicher von Vorteil, daß die Mützen, die wir tragen, mit drei Lappen zum Schutz gegen die Kälte versehen sind, wovon einer die Nase bedeckt und das Gesicht ziemlich un- kenntlich macht. Nun, da wir zwei Kontrollen passiert haben, erscheint uns keine besondere Vorsicht mehr geboten. Vor uns liegt die weite Steppe, wir müssen nach meinem Plan noch ungefähr 35 km vor Morgen- grauen zurücklegen, um unser Ziel, den ersten Biwakplatz zu erreichen. Zum Teil auf der Straße, zum Teil querfeldein, und nur der auf der Bezardbussole eingestell- ten Richtung folgend, eilen wir dahin. Der Rucksack drückt schwer, die mehrfa- che Kleidung ist für einen solchen Gewalt- marsch nicht sehr geeignet, und es dauert nicht lange, bis wir buchstäblich in Schweiß gebadet sind. Von Zeit zu Zeit kommen wir an Häusern vorbei, Russen- und Chinesensiedlungen, und überall emp- fängt uns schon aus weiter Ferne lebhaf- tes Hundegekläff. Das ist nun nicht sehr angnehm, und wenn wir auch kaum so viel Interesse erwecken dürften, daß die Bewohner dieser Häuser sich in ihrem Schlaf stören ließen, so sieht doch die auf- geregte Fantasie eines flüchtigen Kriegs- gefangenen überall Gefahr und Hinder- nisse. Wir sind eben den neuen Zustand noch nicht gewöhnt. Aber es gibt auch eine Reihe peinlicher Irrtümer und Zwischenfälle, zahlreiche Wegkreuzungen und Abzweigungen las- sen uns von unserer Marschrichtung ab- kommen, und das Tempo meines Beglei- ters wird immer langsamer. Ich höre an seinem schweren Atem, daß er nicht mehr recht mitkommt. Schließlich bleibt er mit einem Schmerzenslaut stehen. Es sind die Schuhe, diese fatalen Filzstiefel, die Dr. Kassowitz trägt und die ihm nun nach we- nigen Kilometern die Füße wund gescheu- ert haben. Wir müssen notgedrungen eine Rast einschalten, und mein Begleiter wechselt beim Schein einer Taschenlampe seine Fußbekleidung. Als wir endlich wieder marschieren, ist unser Tempo ein sehr geringes. Dr. Kas- sowitz bleibt immer wieder stehen und klagt über Schmerzen an den Füßen, und ich muß ihn schließlich unter den Arm nehmen und weiterschleppen. Eine schö- ne Bescherung! Was soll aus meinem Plan werden, wenn uns schon diese erste Nacht solche Hindernisse in den Weg legte? Wir hören immer wieder ein merkwürdig knarrendes Geräusch zu unserer Rechten. Erst glauben wir, daß es Windmühlen sei- en, aber dann erkennen wir mit Freude, daß es Fuhrwerke sind, Wagenkolonnen, die auf dem zugefrorenen Fluß, unserem vorläufigen Ziel, dahinfahren. Es ist also Zeit, einen geeigneten Lager- platz zu suchen. Am Fluß dürfen wir uns vorläufig nicht zeigen, um nicht die Neu- gierde der verschiedenen, hier immer zahlreicheren Wanderer, zu erregen. Wir gehen also noch einmal querfeldein. Überall Steppe, da und dort von niederem Buschwerk unterbrochen, nirgends ein Wald, so weit das Auge reicht, alles kahl und übersichtlich. Aber es ist schon halb 7 Uhr morgens, der Tagesanbruch kann nicht mehr fern sein, wir müssen uns mit den vorhandenen Möglichkeiten begnü- gen. Wir wählen ein Feld und schlagen unser Lager auf. Eine Decke dient uns als Unterlage, wir kriechen in den Schlaf- sack, breiten die zweite Decke und unsere Zeltblätter über uns. So mag unser Biwak sich als ein flacher Hügel dem Auge eines Vorübergehenden darstellen, wobei die
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