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Seite 2 Kitzhiiheler Anzeiger Samstag, 24. November 1984 3. Fortsetzung Langsam verfließen die Stunden. Wir haben noch kein Auge zugemacht, und der Gedanke an einen wärmenden Schluck wird immer lebendiger. Ich richte den Spi- rituskocher her - er muß selbstverständ- lich unter der Umhüllung aufgestellt wer- den - dann hole ich mit dem Arm aus und erreiche gerade ein winziges Schnee- fleckchen, von dem ich mit dem Löffel et- was loskratze. Diesen Versuch wiederhole ich mit größter Ausdauer, aber immer wieder habe ich mehr Lehmerde als Was- ser im Kocher, und die Flüssigkeit, die wir schließlich in den Magen bekommen, ist schon eiskalt, als unsere Lippen sie berüh- ren. Auf feste Nahrung verzichten wir, einesteils um unsere Vorräte zu schonen, anderenteils weil das Essen in dieser Stel- lung mehr zur Qual als zu einem Genuß geworden wäre. Endlich fällt die Nacht ein. Wir erhe- ben uns, packen unsere Sachen zusammen und eilen, froh, endlich wieder die Glieder rühren zu dürfen, und uns zu erwärmen, nach der Bussole weiter, dem Flusse zu, der als Nebenfluß des Suifaenk ein verläß- licher Richtungsweise war. Nach etwa ei- ner Stunde sind wir am Ufer. Nun noch eine kurze Rast und heißen Tee, dann konnte der eigentliche Nachtmarsch be- ginnen. Wir finden ein Bächlein, das sich tief im Lehmboden eingegraben hat, und von keiner Seite her eingesehen, einen idealen Lagerplatz darstellt. Nun haben wir auch reichlich Schnee für unseren Ko- cher, und es dauert nicht lange, bis uns die blaue Spiritusflamme an friedliche Zeiten und Bergwanderungen erinnert. Wir lassen auch diesmal unseren Proviant unberührt, aber der heiße Tee gibt uns neue Kraft und Energie. In gehobener Stimmung brechen wir auf und marschie- ren wieder. Zur rechten Hand schimmert der gefro- rene Fluß wie eine breite Straße im Ond- licht. Wir gehen an seinem linken Ufer entlang, finden aber keinen Weg. Schließ- lich taucht jenseits der Eisfläche ein Dorf auf. Es ist nun nicht eben ratsam, mensch- liche Siedlungen zu berühren, aber das Dorf läßt auf eine Straße schließen, und wir müssen hinüber. Der Fluß hat eine Breite von ungefähr 100 Metern, das Eis kracht unter unseren Füßen, wir schlei- chen vorsichtig und solchen Boden nicht gewöhnt unter Bangen und Herzklopfen darüber hinweg. Es war das der erste Ver- such, auf zugefrorenen Wasserläufen zu wandern, wir sollten uns später noch gut an solche Eiertänze gewöhnen. Die Unternehmung ist geglückt, wir klimmen das jenseitige Ufer hinan und stehen bald auf einer breiten Straße, die zu dem Dorf führt. Es ist 10 Uhr abends, eine Zeit, in der man der Nachtruhe der Dorfbewohner noch nicht sicher ist. Und richtig, da taucht schon bei den ersten Häusern ein verdächtiger Schatten auf, ein Mann mit hoher Pelzmütze, der wie angewurzelt neben seinem Pferd steht. - Ein Kosak! Das ist nun so ziemlich die un- angenehmste Erscheinung, die uns begeg- nen konnte. Wieder einmal steht alles auf des Messers Schneide. Ein würgendes Ge- fühl beschleicht mich, ich spüre, wie mein Herz heftiger zu schlagen beginnt. Gerade im richtigen Augenblick noch erwische ich meinen Zopf und hänge ihn über die linke Achsel nach vorne. Der Kosak soll gleich bemerken, daß er Chinesen vor sich hat. Jetzt löst er sich von seinem Pferd los, stellt sich uns in den Weg und leuchtet mir mit seiner Zigarette ins Gesicht. »Wo- her? Wohin?« Ich stottere einige Brocken / )l-. / ')/! lu/ L/,t'rs/t',t,, Kii/ü/,e/, /887 bis 1962. Russisch hervor, versuche ihm klarzuma- chen, daß ich nur chinesisch könne. Das befriedigt ihn durchaus nicht, er will wis- sen, was wir hier zu tun haben. »Konstan- tinovka« sage ich, »arbeiten«. Er scheint einzusehen, daß nicht viel mehr aus mir herauszubringen ist, und befühlt meinen Rucksack. Endlich läßt er von mir ab und vollführt die gleiche Prozedur mit Dr. Kassowitz. Was in diesen Minuten in uns vorgeht, ist schwer zu schildern. Jeder Augenblick wird zur Hölle. Ich sehe uns schon wieder im Lager von Nikolsk, dann bin ich durch, aber das Lager von Ni- kolsk taucht bei dem Verhör mit meinem Begleiter wieder schreckhaft vor meinem inneren Blick auf, und es ist wirklich eine Erlösung, als der Kosak endlich den Weg freigibt und zu seinem Pferd zurückgeht. Während wir mit wachsender Geschwin- digkeit weitereilen, beschließe ich, nie mehr auf dieser Flucht ein Dorf freiwillig zu betreten, und wenn dort hundertmal ein Paradies winken sollte. Wir sind etwa eine Stunde von dem Nest entfernt, als ich jene gefährliche Mü- digkeit in meinen Gliedern spüre, die wohl jeder Skiläufer und Hochtourist kennt: Eine Müdigkeit, die, wenn man so sagen darf, unnatürlich ist und die den ganzen Körper wie eine Lähmung erfaßt. Wir haben seit 24 Stunden nichts gegessen und nicht geschlafen und sind dabei unge- fähr 50 km weit gegangen, ganz abgese- hen von der Schwächung, die uns das viel- stündige Frieren beigebracht hat. Meinem Begleiter scheint es noch schlimmer zu ge- hen. Er taumelt nur mehr daher, stolpert immer wied nd klagt über heftige Schmerzen rampfanfälle am linken Oberschenkel, eine Folge des schlechten Schuhwerkes in der ersten Nacht. Das Ge- lände ist elend, wir ziehen weglos über Stock und Stein durch die Finsternis, straucheln manchesmal und haben Mühe, uns immer wieder aufzurichten. Ich neh- me Dr. Kassowitz am Arm, und wir gehen zu zweit, das heißt, ich schleppe ihn wie eine tote Last weiter. Plötzlich bleibt er stehen und erklärt, nun keinen Schritt mehr machen zu können; ich möge ihn liegen lassen und trachten, allein durchzu- kommen, es sei ganz aussichtslos, daß er sich von diesem Zusammenbruch wieder erholen werde. Unser Tempo war in den letzten Vier- telstunden so schlecht, daß es besser schien, selbst auf die Gefahr hin, die zwei- te Teilstrecke nicht ganz zu bewältigen, ei- ne Zwischenrast einzuschalten. Da wir unsere Decken immer bereit haben - wir, tragen sie über den Schultern und wickeln der Kälte halber die Hände in sie ein - ist das Notlager rasch errichtet. Der Spiritus- kocher tritt wieder in Aktion, und mit den ersten Löffeln heißen Tee erwacht auch unsere Energie auf's neue. Ein kurzer Schlaf soll uns vollends die Kräfte wieder- geben, aber die Gegend ist gefährlich, ei- ner muß abwechselnd wachen. Ich über- nehme den ersten Posten, und die Be- schäftigung mit dem Kochapparat macht es mir wirklich möglich, gegen den Schlaf anzukämpfen. Nach wenigen Stunden brechen wir wieder auf, doch sind wir sehr erschöpft, die Last unserer Rucksäk- ke scheint immer größer zu werden, wir müssen unbedingt eine Straße gewinnen. Meiner Ansicht nach war das nur mög- lich, wenn wir das Tal gegen Süden durch- wanderten, eine Überlegung, die in der Theorie ihre Richtigkeit hatte. Praktisch sieht die Sache allerdings anders aus. Wir kommen in ein wahres Gewirr von sich • Wochenblatt lur den BezirkIlitzbühel • Impressum Verleger: Kitzbüheler Anzeiger Gesell- schaft m.b.H., Kitzbühel, Schlossergasse 10 - auch Inhaber und Herausgeber. Verlags- ort: Kitzbühel, Herstellungsort: Wörgl. Her- steller: Druckhaus Wörgl, Alfred Burgstal- 1er, Wörgl, Peter-Rosegger-Straße 3. Redak- tion: Martin Wörgötter, Kitzbühel, Hinter- stadt 17, Tel. 05356/2236. Rund um den Erdball - Die Flucht aus Sibirien vor 70 Jahren Aus dem Tagebuch aus den Jahren 1914/ 15 von Dr. Lothar Ebersberg, Kitzbühel
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