Kitzbüheler Anzeiger

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Samstag, 1. Dezember 1984 Kitzbüheler Anzeiger Seite 5 4. Fortsetzung Diesmal wollen wir es wagen, bei Ta- geslicht zu gehen. Am frühen Nachmittag brechen wir auf und schreiten in dem im- mer enger werdenden Tal munter vor- wärts. Ein paar Wanderer begegnen uns, darunter auch ein Russe, aber wir bleiben unbelästigt, unser Aussehen scheint nicht auffällig zu sein. Plötzlich hören wir hin- ter uns Schritte. Ein ältlicher Chinese kommt des Weges, wir lassen ihn an uns vorbeigehen. Er spricht uns an. Ich erklä- re ihm auf Russisch, daß ich ihn nicht ver- stünde, weil ich kein Chinese sei. Er tritt einige Schritte zurück und mustert uns mißtrauisch. Ich sage ihm, daß ich ein Deutscher sei, ein Gefangener, der entflo- hen ist, lüfte meine Verkleidung und zeige ihm die Aufschläge meiner Uniformbluse. Da geht ihm ein Licht auf, er schmunzelt verständnisvoll, und als ich nun gar einen Fluch auf die Russen ausstoße, werden seine Sympathien für uns vollkommen. Um diese Stimmung zu erhalten, schenke ich ihm einen Rubel. Das erweckt seine Teilnahme auf's Äußerste, denn jeder Chinese ist Geschäftsmann, und Bargeld vermag bei ihm alles. Mit Gebärden und einzelnen Worten erkläre ich ihm, daß wir nach Sanschaku wollen und frage ihn, ob er gegen Bezahlung meinen Rucksack tra- gen wolle. Er ist sofort damit einverstan- den. Wir gehen nun zu dritt und unterhal- ten uns mühsam über den schwierigsten Teil unserer Flucht, nämlich die Art, wie man über die Grenze nach China kommen könne. Da taucht vor uns ein Dorf auf. Es nützt nichts, wir müssen durch. Gesenk- ten Hauptes, unser Chinese voran, dem Äußeren nach gleichgültig, aber im In- nern doch etwas beklommen, so gehen wir durch die Häuserzeile. Zum Unglück ist gerade die russische Schule aus, und ein Schwarm kleiner Kerle kommt auf uns zugelaufen. Wir sind ihnen eine willkom- meize Gelegenheit zur Belustigung, denn der gelbe Mann ist den Russen immer der Hanswurst, den zu necken eine Ehren- pflicht ist. Die alte Erfahrung, daß Kinder ausgezeichnete Beobachter sind, bestätigt sich auch hier: Wir sind ihnen verdächtig, das geht aus ihrem Verhalten deutlich her- vor. Nur scheinen sie nicht zu wissen, war--im wir ihnen verdächtig sind. Sie lau- fen mit größter Ausdauer neben uns her, und wir sind heilfroh, als wir endlich die letzten Häuser hinter uns haben und da- mit den lästigen Schwarm abschütteln. Die Gegend ist gebirgig, wir müssen über einen Paß gegen Norden. Als wir auf der Höhe angelangt sind, eröffnet sich uns ein neues Panorama. Vor uns liegt ein flaches Becken, durch das eine Straße mit Telegrafenleitung schnurgerade nach Konstantinova führt. Das ist der Ort, an welchem unsere Vorläufer, die beiden deutschen Offiziere, das Schicksal ereilte, also eine verhängnisvolle Gegend. West- lich davon, hinter einem Höhenrücken, liegt das Grenzdorf Poltavka. Die ent- scheidende Stunde ist gekommen, das Ziel liegt unglaublich nahe vor uns. Was wer- den wir auf dieser kurzen Strecke erleben? Wir setzen uns nieder, rasten und bera- ten. Der Chinese erklärt uns, daß er nicht auf der Straße gehen wolle, sondern auf Seitenwegen. Als ich den Vorschlag ma- che, doch gleich querfeldein zu wandern, lehnt er heftig ab. Die Kosaken, so deutet er mit Gebärden an, würden sofort schie- ßen, wenn wir diesen Versuch machten. Also gut, wir sind mit seiner Führung ein- verstanden und brechen auf. Wir steigen zunächst in die Ebene hin- unter. Dabei verliere ich leider die Detail- Auf einein chinesischen »Aung«, nach ei- ner Zeichnung von Dr. Lothar Ebersberg, entnommen seinem Tagebuch. karte, die ich mir von der Gegend ange- fertigt hatte. Nach zwei Stunden sind wir auf einer Straße, die auch nach Konstanti- novka zu führen scheint. Ein Fuhrwerk kommt uns entgegen, und wir lernen ei- nen Scherz kennen, der hier gang und ge- be ist: Der Kutscher schnalzt im Vorbei- fahren unserem Chinesen eine herunter, und es ist nur dem Zeitmangel zu verdan- ken, daß uns nicht gleichfalls ein solch herzlicher Gruß zuteil wird. Dann tau- chen zwei hohe Pudelmützen auf, aber unser Chinese biegt rasch in einen Feld- weg ein, und wir entfernen uns zusehends von dem gefährlichen Paar. Endlich kom- men wir zu einem Häuschen, vor dem sich mehrere hübsche Wolfshunde damit ver- gnügen, einen Pferdekadaver zu benagen. Die Hunde gehen uns unter lautem Gebell an, aber als unser Begleiter auf sie einre- det, beruhigen sie sich, und wir stehen vor dem Eingang in den Hof. Eine Lehmmauer umfriedet das Geviert, links und rechts liegen große Strohhau- fen, von denen aus zwei weitere Wolfs- hunde Ausschau halten. Ein Chinese steht am Eingang, in der Hand einen Kugelstut- zen, die Gegend scheint also nicht sehr vertrauenswürdig zu sein. Neugierige Au- gen blicken durch die Türspalte des klei- nen, aus Lehm gebauten Häuschens. Un- ser Begleiter deutet uns, nur näher zu kommen und führt uns durch die niedrige Tür ins Innere. Wir stehen in einem Raum, der spärlich durch ein kleines Papierfen- ster neben der Tür erhellt wird. In der Mitte ist ein Kang, ein niederes Podium aus Lehm, welches in Zickzackwindungen von dem Rauchkanal einer Feuerstelle durchzogen wird und auf diese Weise eine angenehm erwärmte Fläche darstellt. Auf dem Kang sitzen und liegen eine Anzahl Chinesen, friedlich ihre Pfeife rauchend. Unser Begleiter sagt ein paar Worte der Erklärung, und sie laden uns lächelnd und unter freundlichem Kopfneigen ein, bei ihnen Platz zu nehmen. Das ist nun frei- lich etwas anderes als ein Schlaf auf ge- frorenem Boden. Der Kang bedeutet für den Chinesen der rauhen nördlichen Ge- genden unendlich viel. Da die Hütten meist einfach und luftig gebaut sind, und der Raum gar nicht zu erwärmen ist, spielt sich so ziemlich das ganze Leben auf dem Kang ab. Man sitzt oder liegt darauf, nimmt hier die Mahlzeiten ein und verschläft auf dem Wärmespender die langen, rauhen Winternächte. Meist ist der Kang mit einer Strohmatte be- deckt, und bei den Bauern liegt unter die- ser Matte das Getreide oder die Hirse in dünnen Schichten, um es auf diese Weise durchzutrocknen. Hier wollen wir bleiben und übernach- ten, das steht fest. Die Chinesen sind un- gemein freundlich, und als wir unseren Spirituskocher in Tätigkeit setzen und sie mit Tee bewirten, kennt ihre Höflichkeit keine Grenzen. Immer wieder verbeugen, sie sich und lächeln uns an. Wir zeigen ih- nen unseren Leuchtkompaß, eine Wecker- uhr mit leuchtendem Zifferblatt, und mei- ne elektrische Taschenlampe, und sie staunen uns an, als ob wir Zauberer wä- ren. Nun entspinnt sich auch ein Ge- spräch, das heißt, ein Gedankenaustausch auf nicht ganz einfacher Grundlage. Ich vermehre meinen chinesischen Wort- schatz, indem ich alle möglichen Gegen- stände aufzeichne und sie mir bezeichnen lasse. Mit der Zeit können wir uns ganz gut verständigen. Dabei fällt uns ein klei- ner Bursche durch seine besondere Intelli- genz auf. Er ist stämmig, sein Gesicht ist braun wie Leder, er hat kluge Augen und trägt einen selten langen, dicken Zopf, auf den er besonders stolz zu sein scheint. Ich erfahre, daß er Kojuangfung heißt, und biete ihm Wuga Rubli, nämlich 50 Rubel an, wenn er uns bis Peking begleite. Jetzt hätten wir allerdings nur 30 Rubel, erkläre ich ihm, aber in Peking gibt es Taiko, Deutsche, gute Leute, von denen wir den Rest erhalten werden. Kojuang- fung, den wir in Anbetracht seines etwas umständlichen Namens sogleich Zankerl taufen, ist mit meinem Vorschlag einver- standen, und ein kräftiger Händedruck macht den Vertrag perfekt. Morgen soll's über die Grenze gehen. Unser Begleiter von gestern wird uns bis Sanschaku und der neue weiter nach Peking führen. Wir sind ob dieser Aussichten überglücklich, und nachdem wir alles geordnet und unse- re Habseligkeiten verpackt haben, legen Rund um den Erdball - Die Flucht aus Sibirien vor 70 Jahren Aus dem Tagebuch aus den Jahren 1914/15 von Dr. Lothar Ebersberg, Kitzbtihel
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