Kitzbüheler Anzeiger

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Samstag, 8. Dezember 1984 Kitzbüheler Anzeiger Seite 7 Rund um den Erdball - Die Flucht aus Sibirien vor 70 Jahren Aus dem Tagebuch aus den Jahren 1914/15 von Dr. Lothar Ebersberg, Kitzbühel 5. Fortsetzung Die Chinesen bieten uns zum Frühstück gekochte Hirse und keimende Bohnen an, und wir lernen zum erstenmal die Hand- habung der Eß-Stäbchen kennen. Damit hat es nun seine nicht geringe Not. Die Speisen fallen uns immer wieder zwischen den Stäbchen durch, wir bringen meist nur die leeren Hölzer zum Mund und wer- den herzlich ausgelacht. Aber ich glaube, daß es unseren Gastgebern mit einer Ga- bel noch schlimmer ergangen wäre. Unser neuer Begleiter bemüht sich, un- sere Fußbekleidung in Ordnung zu brin- gen, indem er unsere Schuhe mit geklopf- tem Riedgrasheu, sogenanntem Holzoa, sorgfältig ausstopft. Um halb 7 Uhr früh verabschieden wir uns, herzlich von dem zurückbleibendem Chinesen und treten in den prachtvollen Wintermorgen hinaus. Auf kristallenem Pulverschnee geht es über Felder, dem gefrorenen Fluß zu, dem Grenzpaß entgegen. Rechts, in ge- fährlicher Nähe, liegt das Dorf Konstanti- nova, links noch näher, ja direkt an unse- rem Weg, eine Gruppe von Kosakenhäu- sern. Wir müssen einmal mitten durch ei- ne solche Grenzerfamilie durch, sie be- trachten uns mit scheelen Augen, aber un- sere echten Chinesen vorn und rückwärts wirken sehr beruhigend auf uns. Jetzt liegen die ersten Sonnenstrahlen auf den Höhen beiderseits des Passes und malen prachtvolle Kontraste in die Land- schaft. Das rötliche Laub der niederen Ei- chenbüsche neben dem hellen Blau des Himmels und den tieferen Schatten am goldglitzernden Schnee, lassen uns auf den jenseitigen Talblick gespannt werden und mit verdoppeltem Eifer eilen wir auf der schneebedeckten Straße der Höhe zu. Ein weites Tal, rechts von steilen Ber- gen begrenzt, liegt vor uns. Hinter einem Hügel taucht der Zwiebelturm des Dorfes Poltavka auf, aber wir haben keine Sehn- sucht, noch einmal die Probe auf unsere Echtheit als Chinesen zu machen und wei- chen dieser letzten Siedlung des weißen Mannes aus. Ein russisches Schwerfuhr- werk begegnet uns noch, Hufspuren im Schnee lassen auf Kosaken schließen. Wir biegen nach rechts ab und gelangen, durch Buschwerk und den Hügel von Poltavka gedeckt, zur Talsohle. Freies Gelände liegt vor uns, wir werfen scheue Blicke zu den netten Russenhäusern hinüber, es ist ein stattliches Dorf, doch wir haben jetzt ein anderes Ziel: Zankerl zeigt auf ein Flüßchen dicht vor uns und ruft aufge- regt: »Chitei, Chitei! Miu Russki, miu Kosaki, Chitei!« Jawohl, wir verstehen: China, keine Russen mehr, keine Kosa- ken! Ein verhaltener Juchzer, ein Luft- sprung, wir sind jenseits des Flusses und die ganze Welt scheint uns wie verwan- delt. Alles lacht uns freundlich an, die Bäume, die Gräser, die Hausdächer, alles strahlt im Rauhfrostkleide dieses herrli- chen Wintermorgens. Wir gehen die läng- ste Zeit dem Fluß entlang und kommen an verschiedenen chinesischen Bauernhöfen, sogenannten Fansen, vorüber. Diese Sied- lungen hier zeugen häufig für die Wohl- habenheit ihrer Besitzer. Es sind gut ge- mauerte Höfe mit Hohlziegeln gedeckt, in schöner hoher Einfriedung, wohl zum Schutz gegen Wölfe und anderes Raub- Zeug, und der chinesische Stil ist überall aufs Peinlichste gewahrt. Mit besonderer Sorgfalt ist stets der Toreingang in den Hof gebaut, niedliche Dachreiter in den abenteuerlichsten Formen bringen Ab- wechslung in die einfachen Linien der Häuser. Wir kehren bei einem solchen Haus zu. Meine Neugierde ist sehr groß. Wie mags wohl da drinnen aussehen? Der geräumige Hof ist der Tummelplatz für die Haustiere. Hier gibt es schwarze Schweine und Hühner, schöne, starke Hunde und kleine Pferde mit zottigen Pelzen, denn Stallungen kennt man nicht. Die Vorderseite des Hauses ziert eine Fen- sterreihe mit engmaschigem Raster, der innen mit Papier bekleidet ist. Die Tür, meist in der Mitte der Vorderwand des Hauses, hängt an einer Schnur und wird also nicht waagrecht, sondern senkrecht bewegt. Vor dem Haus steht, aus Lehm, Ton oder aus einem hohlen Baumstamm verfertigt, der Schornstein, in welchem der Rauchabzug des Kanges mündet. Die Dächer sind mit Schilf, Weidenruten oder Stroh gedeckt. Wahrhaft schön und nicht zu vergleichen mit unseren Behausungen wirkt das Innere einer solchen Chinesen- fansa. Durch die großen Fensterflächen dringt goldgelbes, gedämpftes Licht her- ein und taucht alle Gegenstände in eine ei- gentümliche, äußerst sympathische Far- be. Überall treffen wir noch die Original- kleidung Altchinas an, dunkel und in rei- nem Stil, wie auf chinesischen Gemälden. Der Zopf spielt eine große Rolle. Die klei- nen Kinder haben kunstvolle Scheitelli- nien in ihr Haar gezogen, die einzelnen Felder laufen dann je in ein Zöpfchen aus. Merkwürdig ist der Anblick der Frau- en. Sie tragen reiche, bunte Kleidung, be- stehend aus einem hemdartigen Überwurf und einer weiten Hose, die ober dem Fes- sel durch einen kleinen Wickelgamaschen zusammengehalten werden. Das Gesicht ist stark geschminkt, manchmal nur durch ein grellrotes Quadrat auf den Lip- pen, das Haar kunstvoll gekämmt, turm- artig aufgebaut, und mit allerlei abenteu- erlich geformten Kämmen und Nadeln verziert. Am merkwürdigsten aber sind die verkrüppelten Füße, auf denen die Frauen wie auf Hufen einherzappeln. Ei- ne chinesische Legende behauptet, daß ei- ne mißgeborene Kaiserin diese Mode ein- geführt habe, um ihre Verunstaltung all- gemein zu machen. Sinnfälliger ist aber die Erklärung, daß die Bequemlichkeit Dr. Lothar Ebersberg, Kitzbühel, 1887 bis 1962. der chinesischen Ehemänner diese Teufels- erfindung auf dem Gewissen haben. Mit verkrüppelten Füßen kann man nicht leicht flüchten, bzw. man wird bald wie- der eingeholt und an das häusliche Dasein gefesselt. Die Einrichtung eines solchen Hauses ist unglaublich einfach und praktisch. Das Aschenbecken dient als Feuerstän- der, darüber hängt von einem Balken her- ab eine metallene Teekanne und spendet dauernd heißes Wasser. Aber nur wohlha- bende Leute trinken in dieser Gegend wirklich Tee, für die ärmeren Schichten muß heißes Wasser allein genügen. Dieses wird im Siedezustand genossen und stellt bei der herrschenden Kälte eine höchst einfache und billige Energiequelle dar. Im Anfang verbrannten wir uns natürlich die Lippen, bis wir uns daran gewöhnten, das kochende Wasser aus den üblichen hen- kellosen Porzellanschalen zu trinken. Zankerl scheint die Bauern über uns aufgeklärt zu haben, denn als wir nun Ab- schied nehmen, begleiten sie uns noch zur Tür und ihr Händedruck und die Verbeu- gung, die sie immer wieder machen, kann nicht anders als Teilnahme an unserem Geschick und Segenswünsche für die Zu- kunft gedeutet werden. Froh über dieses liebevolle Entgegenkommen und in zuver- sichtlicher Stimmung treten wir unseren langen Marsch auf chinesischem Boden an. Nach dreistündigem Wandern errei- chen wir Sanschaku, eine reine Chinesen- siedlung, deren lange Straßenzeile beider- seits von Planken und Mauern in buntem Wechsel mit sauber gezierten, färbig ge- haltenen Torbogen begrenzt ist. Bei einem der letzten Häuser des Dorfes machen wir Halt, denn unsere gelben Be- gleiter haben hier Freunde. Bald sitzen wir wieder auf dem gewärmten Kang un1 gehen mit Hilfe unserer Gastgeber darar, unsere Echtheit wieder etwas aufzufri- schen. Wir rasieren uns sorgfältig und er- neuern den Ockeranstrich unserer Gesich- ter. Mittlerweile macht Zankerl Einkäufe.
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