Kitzbüheler Anzeiger

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Seite 16 Kitzbüheler Anzeiger Samstag, 15. Dezember 1984 Rund um den Erdball - Die Flucht aus Sibirien vor 70 Jahren Aus dem Tagebuch aus den Jahren 1914/15 von Dr. Lothar Ebersberg, Kitzbühel 6. Fortsetzung Diese Erinnerung an Rußland veranlaßt uns erst recht, das Chinesengasthaus zu betreten und uns zu stärken. Auf Zan- kerls Weisung hin nehmen wir in der dun- kelsten Ecke des Kangs Platz und freuen uns darüber, weder von dem Wirt noch von anderen Gästen besonders beachtet zu werden. Zankerl bestellt das Essen, der Wirt bringt ein Tischchen und wir warten auf die Gerichte. Mittlerweile entfernen sich die übrigen Gäste und wir sind mit dem Wirt allein. Als er nun die Speisen aufträgt, sieht er uns plötzlich erstaunt an. Er hat unsere Verkleidung erkannt, und Zankerl muß ihm erklären, wer wir sind. Das scheint dem Wirt sehr zu gefal- len, er lächelt vergnügt und verwundert zugleich über mein blondes Haar, und wir sind ihm doppelt liebe Gäste. Als ihn un- ser chinesischer Begleiter nach den Mög- lichkeiten unseres Weitermarsches be- fragt, rät er uns entschieden ab, die einge- schlagene Richtung beizubehalten, weil die Straße und unser Ziel Hinguta wegen der vielen Russen und Kosaken, die sich dort herumtreiben, sehr gefährlich sei. Wie das wäre, fragen wir ihn, wenn wir statt Ninguta den Ort Omozo wählten? Er meint, Omozo wäre gut, aber der Weg sei beschwerlich, wir müßten durchs Gebir- ge, und dort wimmle es von Tungusen. Er zählt lange an seinen Fingern und kommt schließlich zu dem Resultat, daß der Marsch nach Omozo mindestens 12-13 Tage dauern werde. Das ist uns nicht sehr erfreulich, aber selbst die Tungusengefahr erscheint uns erträglicher als eine neuerliche Begegnung mit Russen. Wir bleiben in dem Gasthaus über Nacht und brechen am nächsten Morgen nach herzlichem Abschied gegen Süden auf. Zunächst überschreiten wir ei- nen Paß, und vor uns liegt, soweit das Auge reicht, eine herrliche und fremdarti- ge Gebirgslandschaft. Tafelberge wech- seln mit sanfteren Formen, aber die zahl- los hintereinander gereihten Kulissen ge- ben uns einen Begriff von dem überwälti- genden Ausmaß dieses Landes. Wir wan- dern den ganzen Tag über durch ein freundliches Tal und finden bei Eintritt der Dunkelheit eine nette Herberge, in der wir übernachten wollen. Diesmal bleiben wir die längste Zeit unerkannt, als Zan- kerls, nachdem er sich Gewißheit ver- schafft hat, daß die Luft rein sei, mit uns Europäern zu protzen beginnt. Wieder ist die Überraschung und Ver- wunderung der Chinesen groß. Es ent- spinnt sich eine lebhafte Unterhaltung und ich vermehre meinen Wortschatz we- sentlich, indem ich nach bewährter Met- hode Gegenstände aufzeichne und mir ih- re chinesische Bezeichnung erklären lasse. Am nächsten Morgen brechen wir schon vor Sonnenaufgang auf und mar- schieren weiter durch einsame Täler, in denen es nur wenig Siedlungen gibt. Hierher verirrt sich wohl kaum mehr ein Russe oder Kosake. Wir haben das Gefühl, nun wirklich sicher zu sein, und um mir die Eintönigkeit dieser Wande- rung zu würzen, mache ich mit Zankerl weitere Sprachstudien. Nachdem er mich im Chinesischen un- terrichtet, versuche ich ihm einige deut- sche Worte einzubleuen. Mit großer Mü- he merkt er sich schließlich die Zahlen von 1 bis 10, aber da die Chinesen be- Dr. Lothar Ebersberg, Kitzbühel, 1887 bis 1962. kanntlich kein »R« aussprechen können, sondern dafür »L« sagen, klingt Zankerls Deutsch etwas merkwürdig: dlei sagt er und viel, statt drei und vier. Er ist übri- gens ein guter Reisebegleiter, unermüd- lich in seiner Fürsorge und ein glänzender Geher. Die Aussicht, nach Peking zu kommen, und dabei noch Geld zu verdie- nen, erfüllt ihn sichtlich mit großer Freu- de. Er erklärt mir, daß er Angehörige in der Nähe von Tsingtau habe, daß er einen Teil seines Geldes dort hinbringen wolle; den Rest will er in Schnaps anlegen und diesen den Russen an der Grenze verkau- fen, was bei dem Alkoholverbot, das seit Kriegsbeginn in der russischen Armee herrscht, sicher keine schlechte Spekula- tion ist. Heute ist der 24. Dezember 1914, also Julabend. Wir wandern den ganzen Tag flott darauf los und machen nur einmal eine kurze Rast im Freien, um Speck und Brot zu essen. Am Spätnachmittag sind wir endlich am Talende angelangt, steigen in mehrstündiger Wanderung eine Paßhö- he hinauf und sehen nun in unserer Ziel- richtung unabsehbare Reihen von Ge- birgsketten hintereinander getürmt. Es dämmert schon, als wir das jenseitige Tal erreichen und endlich auf einige kleine Hütten stoßen. Die Papierfenster sind er- leuchtet, wir pochen an der ersten Fansa vergeblich an, aber in der zweiten finden wir Aufnahme und bald sitzen wir barfuß am warmen Kang. Das war der seltsamste Weihnächts- abend, den ich je erlebte. Hoch droben im manschurischen Gebirge, weltenfern von jedem mir vertrauten Kreis, unter fremd- artigen Menschen. die Bewohner dieser Fansa, drei arme Chinesen, sind sehr freundlich zu uns, und als wir gar unser Essen mit ihnen teilen - sie scheinen überhaupt nichts zum Nagen zu haben - erschöpfen sie sich in Höflichkeiten und Sympathiebezeugungen. Zum erstenmal auf unserer Wanderung legen wir unsere Verkleidung ab und sit- zen nun in der Uniform beim Schein der Pechlunte, die über uns an der Wand steckt und uns den Weihnachtsbaum er- setzen soll. Wir sagen unsern Gastgebern, daß wir Deutsche seien, und nun erzählen sie al- les, was sie von unserm Volk wissen. Es ist nicht viel, aber einer von ihnen war einmal draußen im schönen Tsingtau und er weiß nur Gutes von unseren Landsleu- ten zu sagen. Ich zeichne flüchtig eine Erdkarte auf und versuche ihnen den gro- ßen Krieg zu deuten. Pfeile sind von allen Seiten her gegen den Mittelpunkt Europas gerichtet und zeigen die feindlichen Mächte an, aber - so erkläre ich den Chi- nesen - wir würden dennoch durchhalten und der Endsieg sei uns sicher. Bevor wir am nächsten Morgen aufbre- chen, zeichne ich eine Skizze von diesem freundlichen Erdenfleckchen, dann neh- men wir rührenden Abschied und ziehen weiter. Es ist ein sehr kalter, klarer Win- termorgen, Bäume und Sträucher sind dick mit Rauhreif bedeckt. Wir wandern der Talsohle zu und treffen auf koreani- sche Bauerngehöfte, pochen auch bei mehreren an, haben aber kein Glück. Die Koreaner, in ihren weißen Gewändern und dem hohen, zylinderartigen Kopf- putz, zeigen sich wohl neugierig an der Tür, lassen uns aber nicht ein. Schließlich finden wir Aufnahme in einer Chinesen- fansa, um zu frühstücken. Hier scheint ein gewisser Wohlstand zu herrschen und er findet seinen Ausdruck in einer älteren Chinesin, die uns anfangs in ihrer Beleibt- heit, den Bocksfüßen und der langen Pfei- fe wie eine Karikatur erscheint. Aber bald treten die guten Eigenschaften dieser un- förmigen Dame in den Vordergrund: Sie füttert uns mit einer Art Polentalaibchen, lt m henblatt 1 ur den Bezirk Mitzbuhel Impressum Verleger: Kitzbüheler Anzeiger Gesell- schaft m.b.H., Kitzbühel, Schlossergasse 10 - auch Inhaber und Herausgeber. Verlags- ort: Kitzbühel, Herstellungsort: Wörgl. Her- steller: Druckhaus Wörgl, Alfred Burgstal- 1er, Wörgl, Peter-Rosegger-Straße 3. Redak- tion: Martin Wörgötter, Kitzbühel, Hinter- stadt 17, Tel. 05356/2236.
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