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Samstag, 22. Dezember 1984 Kitzbüheler Anzeiger Seite 25 7. Fortsetzung Es ist schon finster, aber wir wandern noch immer auf dem Eis. Schon machen wir uns mit dem Gedanken vertraut, wie- der einmal im Freien übernachten zu müs- sen, als uns ein ferner Lichtschein eine dürftige Hütte zeigt. Aber selbst der Kang ist kalt in dieser jämmerlichen Behau- sung, wir frieren die ganze Nacht hin- durch und treten am andern Morgen, oh- ne Abendessen und Frühstück genommen zu haben, unseren Marsch von neuem an. Es ist grimmig kalt, wohl 25 oder gar 30 Grad unter Null, und meine Nase und Wangen wollen sich heute gar nicht er- wärmen. Immer wieder taste ich mein Ge- sicht ab und stelle fest, daß ich jedes Ge- fühl in der Nase verliere. Ich nehme mei- nen Spiegel heraus und sehe, daß sie be- reits weiß zu werden beginnt. Also rasch mit Schnee einreiben und dann aus der Schattenkühle des Tales heraus, dem Hö- henpaß zu, wo die ersten Sonnenstrahlen Linderung versprechen. Doch ganz will sich meine Nase lange nicht erholen, und sie sollte mir später mit ihrer Empfind- lichkeit und dem Mangel an Anpassung viel zu schaffen geben. Endlich sind wir auf der Höhe und se- hen vor uns ein breites Flußtal, das eine kleine Ebene durchzieht. Zu viert, denn der Halunke, den uns die dicke Chinesin angehängt hat, ist noch immer bei uns, er- reichen wir nach etwa einstündigem Ab- stieg die ersten Häuser dieser Gegend. Es sind koreanische Siedlungen, aber wir fin- den trotzdem Aufnahme und bereiten uns aus Teigfiecken und dem Rest unseres Specks eine stärkende Mahlzeit. Die Koreaner gehören wohl zu den merkwürdigsten Menschen dieser Erde. Stundenlang sitzen sie in ihren weißen Ge- wändern und dem unvermeidlichen Kopf- putz am Kang und starren wie Amphibien auf einen Punkt, am liebsten auf ihren Pfeifenkopf, rühren sich nicht, sprechen nicht, aber sie sind harmlos wie Eidech- sen. Ich zeichne hinter meiner Jacke ver- steckt eines dieser seltsamen Geschöpfe, und Zankerl hat darüber eine unbändige Freude. Diesen braven Burschen sollten wir auf ein Haar in der nächsten Herberge verlie- ren. Er hat mit den Bewohnern gespro- chen und die Angst vor tungusischen Räu- bern spukt wieder lebhaft in seinem Kop- fe. Er erklärt uns rundweg, daß es ihm zu gefährlich sei, und will umkehren. ich muß ihm lange zureden, bis er wieder Mut gefaßt hat und mit uns weiterzieht. Der kommende Tag bringt uns zwar zu einer Verkehrsader, längs welcher sogar eine Telegraphenleitung läuft, aber auch Beschwerden und Mühsale aller Art. Ich muß mir einen eingewachsenen Zehenna- gel herausschneiden und trotzdem unge- fähr 40 Kilometer marschieren. Wir über- nachten in einer Fansa, in der es nur etwas gekochten, ungesalzenen Hirsebrei und keimende Bohnen gibt. Der Kang ist kalt, und zu allem Überdruß genießen wir die Gesellschaft eines häßlichen, stotternden Chinesenknaben, dem meine lange Nase nicht gefällt, und der fortwährend ver- sucht, mir mit seinen dreckigen Fingern ins Gesicht zu greifen, bis ich ihn endlich energisch abweise. Auch der kommende Tag macht uns nicht sehr glücklich. Wir irren in dem wei- ten Tal hin und her, gehen immer wieder fehl und gelangen spät abends in eine Fansa. Unser Verhalten scheint Verdacht erregt zu haben, denn als wir endlich am warmen Kang sitzen, tauchen drei chinesi- sche Soldaten auf. Ein lebhafter Wort- wechsel entsteht, dann werden unsere bei- den chinesischen Begleiter in einen Ne- benraum abgeführt, während uns einer der Soldaten, die Mündung seines Schieß- prügels auf uns gerichtet, bewacht. So, nun sitzen wir schön in der Patsche! Wir können uns mit dem Kerl nicht verständi- gen, und wenn wir, auch den Russen glücklich entkommen sind, erledigen uns vielleicht kurzerhand die Chinesen. Da erscheint Zankerl freudestrahlend wieder, die Soldaten reichen uns freund- lich die Hände und bieten uns sogar Ziga- retten an. Alles in bester Ordnung, unser Begleiter hat seine Landsleute überzeugt, daß wir harmlos seien. Am nächsten Morgen sind wir bei herr- lichem Mondenschein schon um halb fünf Uhr auf dem Weg gegen Westen. Nach dreistündiger Wanderung nehmen wir in einer kleinen Fansa Wasser und Hirsebrei zum Frühstück. Dann geht es durch einen Urwald. Hier liegt tiefer Schnee, und wir müssen mühsam in fortwährendem Zick- zack marschieren, um endlich gegen zwei Uhr nachmittags auf der Höhe anzulan- gen. Hier ist es unheimlich kalt, eisiger Wind weht her, und ich weiß mich im Verlauf meiner vieljährigen Wintertouri- stik keiner ähnlichen Kälte zu entsinnen. Wir laufen mehr als wir gehen in westli- cher Richtung weiter und erreichen nach zwei weiteren Stunden die Talsohle und schließlich den Birtensee, eine tief gefro- rene, mit welligen Pakeis bedeckte Flä- che. Hier kehren wir in einem Hause ein. Wir haben schon die längste Zeit wegen Beschaffung eines Schlittens mit Zankerl debattiert, aber er will nichts davon wis- sen, und es wäre wahrscheinlich besser ge- wesen, wenn wir ihm gefolgt hätten. Wir sind in einem Manschuhgehöft. Ein paar große, stattliche Weiber gehen hier her- um, sie sind gut gekleidet, reichlich ge- schminkt und tragen ihr Haar zu wahren Türmen aufgekämmt. Ohne Zankeris Vermittlung fragen wir, ob wir nicht einen Pferdeschlitten bekom- men könnten. Man zuckt die Achseln und bewirtet uns wieder mit dem unvermeidli- chen Hirsebrei. Endlich gehen wir weiter und kommen zu einem Wirt, der auch ei- Dr. Lothar Ehersberg, Kitzbühel, 1887 bis 1962. nen hübschen Krämerladen betreibt. Der Mann verspricht uns einen Wagen mit Pferden, doch wir wollen vorher unseren zweiten Begleiter abschütteln. Das ist nun nicht so einfach. Er will keine Entschädi- gung nehmen, sondern besteht darauf, mit uns nach Kinn zu fahren. Ich biete ihm 10 Rubel. Er lehnt ab. Der Wirt über- redet uns schließlich, den Burschen mitzu- nehmen und nach langem Hin und Her geht es endlich um 7 Uhr abends los. Wir haben drei Pferde vor dem Schlitten, ein Kutscher mit einem Gewehr bewaffnet, sitzt bei uns. Helles Mondlicht liegt über der Landschaft, wir fahren die ganze Nacht hindurch, zuerst ein Stück über den gefrorenen See, dann auf dem Eis des Mutang-Kiang aufwärts gegen Omozo, ei- nem Dorf aus etwa 20 Häusern beste- hend, die erste größere Ortschaft seit San- schaku. Hier gibt es endlich wieder eine tüchtige Mahlzeit, ausgezeichnete Fleischgerichte, ein wahrer Genuß nach dem Hirsebrei der letzten Tage. Unser Wirt verspricht uns für den Vormittag einen Schlitten nach Kinn. Die Reise soll 5 Tage dauern und 25 Rubel kosten. Wir beschaffen uns noch Pelzsocken und Pelzkragen, denn eine Schlittenfahrt ist in diesem Klima schwe- rer zu ertragen als eine Fußwanderung, und packen am frühen Vormittag auf. Zunächst aber sind wir entschlossen, un- seren aufdringlichen zweiten Chinesen loszuwerden. Wir bieten ihm wieder 10 Rubel, aber das ist ihm zu wenig. Er reißt unsere Rucksäcke vom Schlitten, es ent- spinnt sich ein Handgemenge und schließ- lich erhält er von Dr. Kassowitz einige tüchtige Schläge. Zankerl eilt um Hilfe, und bald rücken einige mit Eisenstangen bewaffnete Chinesen an. Jetzt beginnt es ernst zu werden, aber schließlich vermit- telt der Kaufmann, dessen Kunden wir waren, und nachdem wir weitere 5 Rubel geschwitzt haben, gibt der Halunke nach. Zankerl nennt ihn einen Go, einen Hund, und behauptet, er sei überhaupt kein Chi- nese, sondern ein Tunguse, der sich als Erpresser aufspiele. Fortsetzung folgt! Rund um den Erdball - Die Flucht aus Sibirien vor 70 Jahren Aus dem Tagebuch aus den Jahren 1914/15 von Dr. Lothar Ebersberg, Kitzbühel
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