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Herr Harald Juhnke aus Berlin auf Erholung ir. Kitzbüzel. Wandern, Schliztenfahrn, Sonne und ozonreiche Luft tanken standen auf dem Programm. Juhnke ist in Top- form. Im Bild Juhnke und Gattin im Nchlirtn am Kitzbüheler Schwarzsee. Im Hinter- grund Hotel »Bruggerhof«. Foto: AnöeasL. O5ernaLer, Kitzbzl hei Seite 14 - X±tzbüheler Anzeiger Samstag, 12. Jänner 1985 1985— ein Jahr der Besinnung? Vor kurzem habe ich das Buch »Die Schwabenkinder aus Tirol und Vorarl- berg« tief erschüttert gelesen. Da; Buch gehört zu den Tiroler Wi:tschafttudien und is: in zweiter Auflage 1985 erschie- nen. Eir. Buch, lesenswert besonders für ene welche die Wirtschaftserforderriisse von heute nicht verstehen wollen, etwas anderes, also Alternatives verlangen, oh- ne zu wissen was! Die Geschichte Tirols ist bewegt, Pest und Cholera, Kriege und Plünderer, Reichtum für einzelne, Armut Ir viele, Silber- und Kupferbergbau für kaiserliche Interessen kennzeichnen sie. Im Gefolge der napoleonischen Kriege, im Zusammenbruch der Bergbaue zog ei- ne furchtbare Armut ins Land. Viele Kin- der, schon Siebenjährige, muß-en .hr Bündel packen und zogen ins benachbarte Bayern und nach Schwaben, um sich ge- gen einen Hungerlohn, gegen etwas Be- kleidung als Hüterbuben, Kinds Jirnen, als sogenannte »Tiroler Hütekind er«, zu verdingen. Es gab in diesen Landen jedes Jahr regelrechte Kindermärkte. Warum? Die Eltern, meistens Arbeiter ode: Klein- dauern, waren nicht in der Lage, ihre Kin- der zu ernähren, es fehlte am Primitivsten - und so zogen diese Kinder scharenwe:- se über den Arlberg, über den Fernpaß, überden Achenpaß ins Schwabenlanc. bei Regen und Schnee. Diese traurigen Hflte- kindermärsche gab es bis 1914. Welche Armut im Lande! An einen r:chtigen +4 +4+44+ +4+44 $++++•++++$+ +4 Schulbesuch war für diese Armutskinder nicht zu denken; im Oberland gab es auf 2B Bewohner einen »Armen«, im Unter- inn:al auf 21 Einwohner, in Schwaz auf neun Einwohner, in der Stadt Innsbruck war das Verhältnis 1:1 1. Die Kinder wa- ren nichts als Sklaven! Vom Bezirk Kitz- bühcl fehlt eine Statis:ik, aber es ist als si- cher anzunehmen, daß er einer der ärm- sten Tirols war, ienn hier brachen die Bergbaue zusammen, die vielen Knappen und für die Bergbaue Arbeitenden hatten nichts als das Hungertuch. Auch bei den größten Bauern herrschte Armut, die Kin- der, später die Geschwister, waren unbe- zahlte Arbeitskräfte Knechte und Mägde bekamen nur scvie., daß sie leben konn- ten. Dann kam der Erste Weltkrieg mit ei- nem furchtbaren Zusammenbruch, mit Inflation, mit weiterer Armut. Damit im Zusammenhang mußte z.B. mein Vater Kcnkrs anmelden, auch der Betrieb mei- nes Schwiegervaters ging in Konkurs, der aus der Wildschönau stammende Land- wirtschaftsminister Thaler wußte nichts Besseres für seine hungernden Landsleu- te, als eine Tiroler Kolonie in Brasilien zu gründen. So arm waren wir! Und auch an sich reiche Bauern waren so verschuldet, daß s:e 1938 vor dem Ruin standen. Mei- ne Großmutter mit Sohn, Schwiegertoch- ter und neun Enkel hätten den Hof verlas- sen müssen, wäre nicht eine pclitische Sa- nierung erfolgt. So ging es vielen. Oster- reich hatte rund 500.000 Arbeitslose, die Ausgesteuerten nicht gerechnet, die Älte- ren weiden sich noch an die vielen Hand- werksburschen und bettelnden Kinder er- innern können. Ich hatte drei Tage in der Woche zu essen. Versteht dies jemand? Vom Zweiten Weltkrieg zu reden ist müßig, die Zusammenhänge sind heute zu verdreht. Wieviele Gefangene sind ver- hungert, wieviele gingen in Konzentra- tionslagern zugrunde, wieviele Frauen wurden geschändet, wieviele Millionen Zivilisten starben, verbrannten? Es war eine entsetzliche Zeit, aber ich brauche keine Vergangenheitsbewältigung, eher eine für die Gegenwart. 1945 gab es auch in Osterreich nichts zu essen, keine Ar- beit, großteils keinen Strom. Bei einem Kerzenlicht saß man abends frierend in ei- ner ausgebombten Wohnung. Milch für Kinder? Vielleicht, wenn man Schmuck hergab. Fünf Gramm Fett je Woche, Kar- toffeln und Kraut wurden organisiert, ei- ne Schnitte Brot war Reichtum. Wir ka- men heim, abgemagert zum Skelett, und wollten eine heile Welt aufbauen, unseren Kindern sollte es besser gehen als den Schwabenkindern, als uns in unseren Kindheitsjahren. Wir wollten statt Dikta- tur eine echte Demokratie aufbauen. So rollte langsam der Wohlstand an und »wir haben's«! Wir bauen in Zwentendorf um neun Milliarden aus unseren Steuern ein Atomkraftwerk und lassen es verrotten, wie hoch ist der Berg der Tausender? Wir honorieren unsere Politiker so, daß ein Magister Brüggl Sturm läuft, wir bieten ihnen nach kurzer Zeit Pensionen. Es gibt Tantiemen, Aufsichtsratsposten, Sonder- verträge, es gibt - wie es der Herr Bun- despräsident sagte, überall saure Wiesen, und wir haben uns den sauren Regen ein- gehandelt. Das also ist der Wohlstand: Strom für den Rasierapparat, den Fön, den Herd, den Gnillapparat, die Fritteuse, den Kühlschrank, die Tiefkühltruhe, den Mixer, das Radio und den Fernseher, den Staubsauger, den Boiler und die Boden- schleifmaschine, wir brauchen ihn für hei- le Beleuchtung überall, für die Bahn (wer kennt noch eine Dampflok?), die Straßen- bahn, damit die Schüler gratis fahren können, die Fußbodenheizung oder den Ölbrenner, denn alle Räume müssen mehr als warm sein, wir brauchen Strom für die Hebebühne, zum Aufladen der Autobat- terie, für die Mischmaschine, für die elek- trische Christbaumbeluchtung, für die Industrie mit all ihren Maschinen, für die Verkehrsampeln. Man fährt mit seiner Wohlstandskarrosse zum nächsten Laden um Zigaretten, geht keinen Schritt zu Fuß, macht Fernreisen und wettert gegen die Energiemafia, aber wehe, wenn es ei- nen autofreien Tag gäbe, wenn es wieder zu einer Energiekrise käme. Nicht auszu- denken! Wir zahlen Milliarden für unsere Hochschulen, haben eine Akademiker- schwemme, bieten den Studenten alles, damit sie überall demonstrieren statt stu- dieren! Uns paßt also die Demokratie nicht mehr, es muß anders werden, wir werden alternativ, ohne zu wissen, was dies bringen kann, man will nicht mehr schwarz oder rot oder blau, nein, man will grün - und geht weiterhin keinen
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