Archiv Viewer
Ausgabe im Vollbild öffnen
Zurück zur Übersicht
EIN HÜBSCHER SCHUH KOMPLETTIERT DEN TRACHT-FOLKLORE-LOOK Seite 4 KITZBÜHELER ANZEIGER TRACHTEN/FOLKLORE 86 Der in den Trachten so hervorragend gestal- tete Ausdruck der Individualität, Gesinnung und Lebensweise ist heute nur noch von hi- storischer Bedeutung. Damit stellen sich zwei Fragen. Was hat zu seinem Verlust ge- führt? Hat sich so etwas wie ein Ersatz ent- wickelt? Die Revolutionsbewegungen des ausklingen- den 18. Jahrhunderts und jene Mitte des 19. Jahrhunderts verhießen Freiheiten, von de- nen die Äußerlichkeiten am leichtesten zu „gewinnen" waren. Der Wohlstand, den die industrielle Revolution versprach, galt zwar wieder nur jenen, die an der Macht waren und die besten Verbindungen zur Macht hat- ten. Sein Sog war aber so stark, daß er weite Teile des Bauernvolkes und der Bauernkultur entwurzelte. Die Verlockungen der neuen, der industriellen Zeit vermochten ihren Bazil- lus auch in Bauernmark zu setzen. Die Land- flucht wurde zur Flucht aus der Identität. Es waren die industriellen, politischen und geistigen Stürme, die ihren entscheidenden Anteil daran haben, daß ein immer größeres Stück Bauernkultur die Patina des Vergange- nen erhielt. Das Vakuum, das sie hinterließ, entfachte ausgerechnet bei denen, die zu ih- rer Schwächung keinen geringen Beitrag lei- steten, Freude und Sehnsucht, das Landle- ben zeitweilig in Bauernkleidern zu genießen. Die Zeit für die „Folklore" war gekommen. 1846 hob sie J. W. Thomas, zunächst als Be- griff für Volkskunde, aus der Taufe. Mit einiger Berechtigung kann man jedoch die erste Folklorewelle der Romantik zu- schreiben. Nicht nur Dichter und Maler stei- gerten sich in der Rekreation der „Land- und Bauernherrlichkeit". Bürger und höfische Gesellschaft fanden Gefallen am „modus" der Landbevölkerung. 1848 wurden sie aus ihren nostalgischen Träumen gerissen. Die Folklore ist das modische Kleid für den Traum der Menschen vom einfachen Leben auf dem Lande. Was nicht heißt, daß ihre Kleider einfach sind. In dieser Rolle ist sie für die Menschen so etwas wie ein Ersatz für die Tracht. Eine Auffassung, die die Trachtener- neuerung brüsk von sich weist und sie mit Zornesröte reklamieren läßt, daß hier Birnen und Äpfel vermischt würden. Dem ist schlicht entgegenzuhalten, daß Wissen- schaft und Praxis öfter zwei Paar ganz ver- schiedene Schuhe sind. Wiewohl es der ein- schlägigen Wissenschaft schon heute nicht an Großzügigkeit mangelt, auch die neueren Kleiderformen als Tracht zu bezeichnen, so- lange sich in der Überlieferung Gemeinsam- keiten von Sitte und Brauchtum, von Land- schaft und Lebenshaltung nachweisen las- sen. Die Aufgabe der Trachtenerneuerung, gleichsam in historischer Verantwortung wertvolles Kulturgut zeitgemäß zu modifizie- ren und diesem eine möglichst große Träger- schaft zu erschließen, ist eine wichtige und anerkennenswerte.
< Page 40 | Page 42 >
< Page 40 | Page 42 >