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‚ JJ1iibüheler LAnzeigeir Samstag, 6. Mai 1989 Berlin war eine Reise wert Bildungsreise der Pflichtschullehrer des Bezirkes + von OSR Johann Graß Das war der einhellige Tenor der 43 Teilnehmer an der diesjährigen Bildungs- reise der Pflichtschullehrer des Bezirkes Kitzbühel. Pünktlich - wie es sich schließlich für Lehrer geziemt - war auch der letzte Platz eingenommen und BO Hans Krim- bacher konnte seine »geschlossene Gesell- schaft« seelenruhig dem altbewährten Hans Schafför anvertrauen, war doch die Reise vom Kollegen Herbert Niss - un- terstützt von seiner getreuen Assistentin Heidi - wohldurchdacht und bestens vorbereitet worden. Als wir auf der Gegenfahrbahn der Au- tobahn die sich nach Süden zwängende Blechlawine entgegenkommen sahen, wa- ren wir heilfroh, diesmal die Nordroute gewählt zu haben. In Wohnzimmeratmosphäre durchma- ßen wir das Land unserer bajuvarischen Urväter und erreichten nach Mittag das schwerbewachte, stacheldrahtumsäumte Tor zum »Paradies«. Nun rumpelten wir stundenlang mit 80 km/h auf den Resten der »Reichsauto- bahn« durch die eintönigermüdende Landschaft, bis wir abends das Hotel »Plaza« direkt am Ku-Damm, erreichten. Während anderentags unsere Kinder daheim um den Titel eines »Palmesels« kämpften, erlebten wir bei der Stadtrund- fahrt nicht nur die verschiedensten Nuan- cen und Dimensionen dieser Weltstadt, sondern lernten in unserer Führerin eine echte »Berliner Schnauze mit Herz« ken- nen, die diesem Titel nicht nur alle Ehre machte, sondern uns alsbald durch ihr historisch-soziologisch fundiertes Wissen in ihren Bann schlug. Mein Gott, was lernten wir auf dieser 170 km(!) langen Stadtrundfahrt nicht al- les kennen: das altehrwürdige Wahrzei- chen dieser Stadt, die gespenstische Ruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, Schloß Bellevue, den Berliner Amtssitz Herrn von Weizsäckers, das vielfach be- wachte sowjetische Ehrenmal, das Bran- denburger Tor, das Schöneburger Rat- haus. Bald wußten wir Begriffe wie »Schwan- gere Auster«, »Gold-Else«, »Zirkus Ka- rajani« und »Palaver-Bunker« richtig ein- zuordnen. Nur eine Rast an der unseligen Mauer ließ den Berliner Humor jäh verstummen. Im Reichstagsgebäude wandten wir uns den »Fragen an die deutsche Geschichte« zu. Beim Mittagessen verkosteten wir gerne »Eisbein mit Erbsbrei und Sauerkraut«, doch die echte »Berliner Weiße« ver- mochte die meisten unserer Männer zu keinen großen Begeisterungsstürmen hin- reißen. Der 6600 cm hohe Kreuzberg gab einem ganzen Stadtviertel seinen Namen, heute ist er unter der Bezeichnung »Klein- Anatolien« besser bekannt. Die hier »auf freier Wildbahn hausenden Chaoten« wa- ren nur an ihren Spuren an den Hauswän- den zu erahnen. Durch das traditionell »rote« Arbeiter- viertel Wedding führte der Weg in das Zentrum von Lübars, eines der 59 einge- meindeten Dörfer, mit Dorfschmiede, mit einer aus dem 13. Jhdt. stammenden Dorfkirche, mit der kleinen Dorfschule - selige Erinnerungen brennen in den Her- zen unserer älteren Semester. )/e Bildungsreise der 1 'ilichtschuiiehrer des Bezirkes Kitzbü hei führte sie heuer nach - Berlin. Foto: Kurz Durch die vieldiskutierte Trabanten- stadt »Märk(würd)isches Viertel« am Volkspark Glienicke vorbei, führte uns uisere Begleiterin an die als Austausch- patz für östliche und westliche Spione be- ktnnte Glienicker Brücke. Den Abschluß dieses gewaltigen, aber nacht im geringsten anstrengenden Tages- pensums bildete ein Ausflug durch den Grunewald an den Berliner »Lido«, die »Junggesellenfalle »Wannsee«. Vorbei an schönen Schrebergärten ging's wieder heimzu. Der Montag - so hieß es - stand zur freien Verfügung, leider nicht für jene be- dauernswerten Ehemänner, die sich im Schlepptau ihrer Gattinnen - verschwin- dend in der Menge weiterer 70.000 Ein- kaufswütigen - durch den »Palast der Superlative«, das KdW (»Klau dir was« zu quälen hatten. Nachdem wir uns wieder »alphabeti- sirt« hatten, geleitete uns am Nachmittag Genossin Kommissar - ausgestattet wie ein Vier-Sterne-Hotel - durch den Checkpoint Charlie, eines der drei Schlupflöcher der 46 km langen Mauer, nach Ostberlin und übergab uns nicht ei- nem »Führer«, nein einem »Stadtbilder- klärer« zu treuen Händen. Er erläuterte und zeigte uns sein Berlin: Unter den Lin- den, die Großbaustelle Friedrichsstraße, den Fernsehturm, das Theaterviertel, die Humbolduniversität, die Hedwigskathe- drale. Für einen Moment erinnerten wir uns der Diskussionen um die Bischofser- nennungen, hier und daheim. Nach einem Pflichtbesuch am »Ehrenmal des Sowjetsoldaten«, vorbei am »Haus des Lehrers« und der Marienkirche neben der Nkolaikirche. älteste Berlins wurde uns großzugig der Verzehr einer Bockwurst ge- währt, dann erreichten wir das Ziel des Ta- gcs. die Museumsinsel mit ihren zu den be- deutendsten der Welt zählenden Museen. Ehrfürchtig bestaunten wir den Pergamon- al:ar, durchschritten das Ischtar-Tor Nehu- kLdnezars und wandelten andächtig entlang der Prozessionsstraße Babylons. Am Dienstag-Vormittag durchrutschen wir dann filzbedoggelt »Preußens Glanz und Gloria« in Charlottenburg, dem schön- sten und größten Schloß Berlins, gutbehütet vcm Reiterstandbild des »Großen Kurfür- sten«, dem großartigsten Beispiel deutschen Barocks in dieser Art. Während des Besuches der »Galerie der Romantik« entdeckte der Berichterstatter vcller Stolz Werke seines engeren Lands- mtnnes Josef Anton Koch, dessen 150. To- destag man heuer in Tirol gedenkt. Ein Blick in das wenn auch nur einzige Auge Nofretetes entschädigte manchen für die Strapazen des Tages. Am Nachmittag besuchten die Unent- wegten wenigstens eines der Dahlem- Museen, die anderen lustwandelten dem Tag entsprechend es war ja Frühlingsbe- giln - in den Botanischen Garten. Der Abend war persönlichen Neigungen vorbehalten, die reichten VOfl der »Aida« in der Deutschen Oper Berlin, über Helmut Lohner im Renaissance-Theater bis zur »Herbstmilch« im Kino-Center. Einige ver-
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