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SEITE 10 WEIHNACHTS-ANZEIGER SAMSTAG, 18. DEZEMBER Die "Anzeiger"-Weihnachtsgeschichte: Adoptiveltern als Weihnachtsgeschenk Blaßrosa zeigten sich die verschneiten Berge im Quadrat des Fensters. Die zehnjährige Susanne starr- te in dieses Szenarium des hereinbrechenden Abends, schaute dann auf ihre Armbanduhr, senkte den Kopf und blickte betre- ten zu Boden. Zwei Stun- den des Wartens sind ver- gangen. Jede Minute, ja jede Sekunde, war ihr wie eine Ewigkeit vorgekom- men. Wo waren jene bei- den Menschen, die ihr ein neues Zuhause verspro- chen hatten, warum kamen sie nicht? Mußte sie im Heim bleiben? Tränen füll- ten Susannes Augen. Aber- mals schaute sie zum Fen- ster hinaus. Die Tür zum Besucherraum wurde geöffnet, eine Schwester des Waisenhauses erschien, nickte Susanne zu und kippte den Lichtschalter. Ein leises Summen ertönte, Helligkeit flackerte auf und die Neon- leuchten tauchten den Raum in kaltblaues Licht. Die Schwester entfernte sich wieder, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Enttäuscht setzte sich Susanne auf die Eckbank, stütz- te beide Arme auf ihren Knien ab und bettete das Gesicht in ihre Hände. Dabei murmelte sie: "Man hat mich vergessen. Die holen mich nicht ab". Gedanken an ihre Eltern überfielen sie, machten sich in ihrem Bewußtsein breit. Nebel- haft tauchten die Umrisse zwei- er Personen vor Susannes gei- stigem Auge auf, wurden kom- pakt und entpuppten sich schließlich als Vater und Mutter. Beide winkten ihr zu. Plötzlich fand sich Susanne im Heck des elterlichen Wagen wieder. Sie beugte sich den Vordersitzen zu, spürte die Vibrationen des Motors und erkannte die nervi- gen Hände des Vaters, die kraftvoll das Lenkrad umklam- merten. Die Frontscheibe gab ihr den Blick auf das graue As- phaltband der Straße frei, das sich unentwegt heranschob und in ihr den Anschein erweckte, niemals zu enden. Die Zehnjährige genoß es, Bäume, Sträucher und Gebäu- de vorüberhuschen zu sehen. Alles war in Bewegung, verän- derte sich unablässig und ver- hinderte dabei, daß Susanne während der Fahrt Langeweile verspürte. Allein fliegen muß noch schö- ner sein, dachte Susanne bei sich, über die Wipfel der Bäu- me, über Dörfer und Städte hin- wegschweben, alles unter sich lassend zu den Wolken aufstei- gen. Plötzlich begann das Auto zu schleudern. Instinktiv klammer- te sich Susanne am Fahrersitz fest. Reifen quietschten, das Band der Straße geriet in schau- kelnde Bewegung und die Welt außerhalb des Fahrzeuges wur- de zum Karussell, zum wirren Tanz von Bäumen, Gebüschen und Asphalt. Der Wagen kipp- te, Glas splitterte, Blech kreisch- te und für einen Augenblick übertönte ein spitzer Angst- schrei der Mutter das lärmende Inferno. Dann folgte ein ohren- betäubender Knall und eine Seitenwand schob sich ins Inne- re des Fahrzeuges. Wie in Zeit- lupe sah Susanne die sich ver- formende Blechwand auf sich zukommen, spürte wie ein Sprühregen von Glassplittern ihre Gesichtshaut verletzte und hörte sich losbrüllen. Die Au- gen krampfhaft geschlossen, gellte sie ihr Entsetzen hinaus. Wie aus weiter Ferne drang dann eine Stimme auf sie ein. Sie unterbrach den Schrei, schluchzte laut auf und begann hysterisch zu kreischen. Sie fühlte sich von Händen gerüttelt und öffnete die Augen. Der Warteraum umgab sie wieder und da tauchte ein Frauenge- sicht auf, das sich ihr mit sorgen- voller Miene näherte. Susanne beruhigte sich. Sie erkannte in dieser Frau jene Schwester, die sie vor Monaten in diesem Heim empfangen hatte. Sie stammelte: "Schwester, da war wieder der schreckliche Unfall und... Sie verstummte und brach in Schluchzen aus. Die Schwester wischte ihr die Tränen aus dem Gesicht und sagte beruhigend: Du hast nur geträumt. Glaube mir, es war nur ein böser Wachtraum. "Aber mein Papa und meine Mama", heulte Susanne noch- mals auf: "die sind wirklich tot". In ihrer Verzweiflung drückte sie ihr Gesicht gegen die Brust der Schwester. Sie weinte eine Zeitspanne lang und löste sich dann von der Frau, wandte sich ab und senkte den Kopf. Be- drückendes Schweigen herr- schte im Raum, das Susanne mit einer leise gestellten Frage schließlich unterbrach: "Haben die Beiden, die mich zu sich nehmen wollten, auf mich ver- gessen?" "Nein, Kind, du mußt nur Geduld haben", antwortete die Schwester. Aber ihrer Stim- me fehlte die Kraft der Über- zeugung. Sie stahl sich gerade- zu aus dem Raum und ließ das Mädchen allein. Das vorhanglose Fenster gab den Blick nach draußen unge- hindert frei. Susanne mußte erkennen, daß es inzwischen dunkel geworden war. Sie wandte sich ab, sah ihren Koffer und ging darauf zu. Sie über- legte kurz und setzte sich auf ihn. Alles was sie besaß, befand sich darin. So gab ihr der Koffer das Gefühl, zumindest irgendet- was eigenes zu haben, worauf sie sich stützen konnte und wa- ren es auch nur die Fragmente eines vergangenen Lebensab- schnittes, die in die Gegenwart herübergerettet worden sind. Sie saß da, die Hände im Schoß gefaltet und wartete. Bei jedem Geräusch starrte sie auf die Tür, aber niemand öffnete sie. Nur der Geruch von Weih- rauch drang in den Raum und brachte Susanne zum Bewußt- sein, daß Heiliger Abend war. Begann im Heim bereits die Weihnachtsfeier? Sie haßte dieses alte Haus mit den vergitterten Fenstern in den Schlafsälen, trotzdem be- neidete sie nun die Kinder hier. Die durften jetzt um den Christ- baum stehen und Weihnachts- lieder singen. Sie aber mußte warten und niemand konnte ihr garantieren, daß man sie tat- sächlich abholen würde. Und wenn nicht, dann wurde sie so- gar um das bescheidene Glück gebracht, mit den anderen Kin- dern singen zu dürfen. Sie stand auf und stampfte in einem Anflug von Zorn in den Boden. Aber das half nichts. Sie setzte sich wieder auf ihren Koffer, begrub das Gesicht in ihren Händen und weinte. Nie- mand kam, der sie an sich gezo- gen hätte, um ihr einen trösten- den Kuß zu geben, so sehr sie sich auch danach sehnte. Kinderstimmen, zu einem melodischen Vielklang vereint, drangen gedämpft an Susannes Trommelfelle. Beide Hände zu Fäusten geballt, stand sie auf. "Man hat mich vergessen", sag- te sie immer wieder vor sich hin und "keiner will mich". Sie wan- derte im Raum auf und ab. Dann blieb sie vor dem Fenster ste- hen und starrte in die Dunkel- heit. Es war ihr, als müßte sie ersticken. Hastig öffnete sie die Fensterflügel und lehnte sich über die Brüstung. Ein eisiger Hauch schlug ihr entgegen, aber sie verspürte die Kälte nicht. Sie lauschte dem Ver- kehrslärm, der von weit her zu ihr vordrang. Da draußen spielt sich das Leben ab, dachte sie, dort wohnen all die Kinder, die jetzt vor dem Weihnachtsbaum ihre Geschenke auspacken dürfen. Je länger sie nach draußen starrte, desto besser gewöhnten sich ihre Augen an die Dunkel- heit. Sie nahm wahr, daß sie von dem Raum aus, in dem sie Stun- den verharren mußte, gefahrlos ins Freie gelangen könnte. Nur etwas über einen Meter war der schneebedeckte Boden ent- fernt. Kurz entschlossen glitt sie ins Zimmer zurück, packte ihren Koffer und wuchtete ihn auf das Fensterbrett. Dann versetzte sie ihm einen Stoß. Kaum hörbar landete er im Schnee. Jetzt stieg Susanne auf das Fensterbrett, bückte sich und setzte zum Sprung an. Da vernahm sie plötzlich Mo- torengeräusch und sah zwei Lichtfinger, die sich zum Haupt- eingang des Heimes vorscho- ben. Sie erkannte die Gefahr, entdeckt zu werden, stieg vom Fensterbrett herunter und schloß die beiden Flügel. Ab- wartend blieb sie stehen. Schon nach kurzer Zeit ertönten im Gang die Schritte einiger Per- sonen. Sie näherten sich der Türe zum Besucherraum. Die Klinke wurde niedergedrückt und die Anstaltsleiterin, gefolgt von einem Ehepaar, betrat den Raum. Susanne stand einige Augen- blicke wie angewurzelt da, hetzte plötzlich los, an der Schwester vorbei und direkt in die ausgebreiteten Arme ihrer Pflegemutter. Sie wußte nicht, ob sie lachen oder weinen soll- te. WILHELM KUEN
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