Kitzbüheler Anzeiger

Archiv Viewer

Ausgabe im Vollbild öffnen
Zurück zur Übersicht
SEiTE 24 WEIHNACHTS-ANZEIGER SAMSTAG, 25. DEZEMBER Die "Anzeiger"-Weihnachtsgeschichte: Die Wiedergeburt am Heiligen Abend Peter klemmt sich hinter das Steuer seines vollbe- packten Autos. Ab in die Heimat, ab nach Tirol. Vor vier Jahren ist er zu Hause ausgezogen. Er wollte fremde Länder kennenler- nen und landete schließlich in Spanien. Und er war glücklich hier, bis ihn der letzte Brief seines Vaters erreichte. Dieser bat ihn, zu Weihnachten nach Hau- se zu kommen, da es ihm nicht gut gehe. Satt brummend rollte das Fahrzeug auf der Autobahn dahin. Peter fährt schnell, er wird das Gefühl nicht los, von seinem Vater dringend ge- braucht zu werden. Und wenn er den Heiligen Abend nicht in irgend einem Gasthaus an der Straße verbringen will, muß er in etwa vierzehn Stunden zu Hause sein. Peters Vater liegt in seinem Bett. Schmerz tobt in seiner Brust. Sein Gesicht, mit Bart- stoppeln bedeckt, verzerrt sich zur Maske. Die graufaltige Haut umspannt die Backenknochen und dort, wo einst die Lippen prangten, gähnt ein Loch, das den Blick auf Zahnstümpfe frei- gibt. Leo versucht sich aufzu- richten. Aber die kraftlosen Arme versagen den Dienst. Sein Kopf sinkt ins befleckte Kissen zurück. Trüben Blickes schaut er zum Plafond hoch. Wie lange noch so leiden müs- sen? Tränen quillen aus seinen Augen. Seit zwei Tagen liegt er hier, unfähig, auch nur die Toi- lette aufzusuchen. Er braucht Hilfe. Wo bleibt Peter, sein Sohn? Dieser muß doch verspürt haben, wie sehn- lich er ihn erwartet. Und wo sind die Freunde und seine Nach- barn? Alle Wohnungen in die- sem Haus sind belegt, überall sind Menschen. Warum hilft ihm denn keiner? Leo versucht um Hilfe zu schreien, aber nur Gebrabbel kommt über seine Lippen. Dann hustet er und dreht sein Gesicht dem Kissen zu. Braunroter Aus- wurf bekleckert das Linnen. Und dieser Schmerz! Selbst die Gedanken fliehen unter dessen greller Wucht. Die Welt löst sich scheinbar auf, gerinnt zu einem einzigen Bewußtsein: Qual! Dann wird der rasende Druck matter. Wie durch Schatten hin- durch erkennt Leo die vertrau- ten Gegenstände seines Schlaf- zimmers und sieht die sanften Lichtkleckse, die die Abendson- ne an eine Wand zaubert. Jetzt fühlt sich Leo nicht mehr so einsam, so verlassen in seinem Elend. Auch Gedanken finden sich wieder ein, die klar genug sind, um ein wenig Hoffnung ins Bewußtsein zu drücken. Der Ausdruck schier unerträglicher Schmerzen in Leos Gesicht weicht die Gelöstheit. Jetzt müßte ich doch ein wenig schla- fen können, denkt er. Aber er kommt nicht dazu. Er hört nämlich Schritte, die sich seiner Wohnung nähern. Ein Leuchten gleitet über sein Ant- litz. Naht die ersehnte Hilfe? Kommt sein Sohn? Ein Bekann- ter oder vielleicht ein Nachbar, dem seine Abwesenheit aufge- fallen ist? Leo lauscht ange- spannt und merkt dabei nicht, wie sehr dies an seiner Kraft zehrt. Dann entfernen sich die Schritte. Die Angespanntheit weicht einer tiefen Enttäu- schung. Peter hält dem Zollbeamten seine Paß hin. Dieser nickt kurz und läßt ihn passieren. Der er- ste Teil der Reise ist geschafft. Peter unterdrückt sein Hunger- gefühl. Die innere Unruhe treibt ihn weiter. Lediglich beim Tanken schlürft er hastig eine Tasse Kaffee. Dann sitzt er auch schon wieder am Lenkrad und braust durch die in zuneh- mende Dunkelheit getauchte Landschaft. Nun gilt es Frank- reich möglichst schnell zu durchqueren. Erst an der Schweizer Grenze möchte er eine längere Pause einlegen. Leo weiß nicht, wie viele Stunden verronnen sind, als er endlich wieder klar denken kann. Immer noch fühlt er den Willen zum Leben in sich. Aber ist dieses Dahinsiechen tatsäch- lich Leben? Er neigt den Kopf zur Seite. Das wahre Leben findet aus- serhalb seiner Wohnräume statt. In Form von Lärm und Hektik, den ein junger Tag mit sich bringt. Kinder stapfen treppab- wärts, lachen, schreien und bal- gen sich. Frauen und Männer streben der Haustüre zu und versickern im Verkehrsgewoge. Hausfrauen finden sich im Stiegenhaus ein. Die Lust nach dem alltäglichen Klatsch führt sie zusammen. Heute wird hin- ter vorgehaltener Hand von Leo gesprochen. Drei Tage sind es nun her, seitdem man ihn das letzte Mal gesehen hat. Was er wohl treibt? Bestimmt ist er ein Säufer und kann im Rausch die Woh- nung nicht verlassen. Oder hat er sich gar ein Flittchen geholt, der arme Witwer? Die Weiber kichern. Da müßte man zu- schauen können. Ob er noch genügend Kraft in den Lenden hat? Wieder Gekicher. Dann, ganz im Ernst: wo er wohl wirk- lich stecken mag? Ach was. All- gemeines Achselzucken. Aus- serdem, so trumpfen sie auf, sei es ihre Sache nicht, sich in frem- de Angelegenheiten zu mischen. Später steckt der Briefträger Werbebroschüren in Leos Briefkasten. Mißmutig nimmt er wahr, daß er alte Trottel zu faul ist, seine Post auszuheben. Und was erblicken seine geschulten Augen: eine Stromrechnung! Aha, also daher weht der Wind! Der Alte hält sich versteckt. Dem sitzen die Gläubiger im Genick. Na so etwas, ein Pen- sionist sein und noch immer Schulden machen. Dessen Sohn möchte er nicht sein. Der wird vielleicht staunen, wenn er ein Schuldenerbe antreten muß. Aus der Nachbarswohnung dringt ein schmatzendes Geklo- pfe. Da gibt es Wiener Schnit- zel, denkt Leo, sein Leibge- richt. Aber der Gedanke an eine Mahlzeit treibt Übelkeit in ihm hoch. Später vernimmt er dann das Rauschen von Was- ser. Das Geräusch dringt wie aus weiter Ferne zu ihm heran. Sein Bewußtsein wird äußerst rege und nimmt die Signale des ausgemergelten Körpers wahr, der Ruf nach Wasser. Der Leib benötigt Flüssigkeit. Langsam geben Leos Lider die Augen frei. Aber sein Blick verfängt sich in nebelhaften Schleierge- bilden. Die Umwelt verbirgt sich im Schatten. Am frühen Nachmittag parkt Peter sein Auto vor dem Wohn- haus, in dem er seine Kindheit verbracht hat. Er kann es kaum noch erwarten, seinen Vater wiederzusehen. So betritt er ei- lig das Stiegenhaus, gelangt an die Wohnungstüre seines Vaters und drückt auf die Klingel. Ungeduldig starrt er auf die Tür und läutet nochmals. Nichts rührt sich. Ein wenig enttäuscht kramt Peter in seiner Jackenta- sche nach dem Schlüsselbund. Dann probiert er, ob sein alter Wohnungsschlüssel noch paßt. Reibungslos dreht sich dieser im Schloß und nach dem Griff auf Klinke steht Peter in der Wohnung. Hastig sucht er nun alle Räume ab und gelangt schließlich ins Schlafzimmer. Gestank schlägt ihm entgegen. Dann sieht er seinen Vater im verschmutzten Bett liegen. Er geht auf ihn zu, rüttelt ihn an der knochigen Schulter und merkt, daß er zwar atmet aber besin- nungslos ist. Peter schreitet den Klinik- gang auf und ab. Endlich, längst ist die Nacht hereingebrochen, kommt der Stationsarzt auf ihn zu und sagt: "Ihr Vater hat Glück gehabt. Sie haben ihn in letzter Minute gefunden'. Die Spannung löste sich von Peter. Ein befreites Lächeln huscht über sein Gesicht. Aber sofort wird er wieder ernst und schaut betrübt zu Boden. Leise, mehr zu sich selbst sagt er ein Weilchen später: "Und ich bin von Spanien zurückge- kommen, um mit meinem Vater Weihnachten zu feiern". Der Arzt legt ihm eine Hand auf die Schulter und meint "Sie haben ihm das Leben gerettet. Könnte es ein schöneres Weihnachts- fest geben!" WILHELM KUEN £
< Page 24 | Page 26 >
 
Kontakt
Tel.: +43 (0) 5356 6976
Fax: +43 (0) 5356 6976 22
E-Mail: info@kitzanzeiger.at
Virtuelle Tour
Rundblick - Virtual Reality
Werbung
 
Zurück Aktuelle Gemeinde Archiv Suchen