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DONNERSTAG, 17. JÄiER 2002 LOKAL-ANZEIGER SEITE 31 Vier mal vier Geschichten aus San Juan in Tirol DerArbeitskreis Literatur St. Johann in Tirol und der Kitz- bliheier Arvzeiger freuen sich, den vom Marktschreiber Ralf Schiatter verfassten Essay über seine Eindrücke von St. Jo- hann und Umgebung nunmehr der Bevölkerung präsentieren zu können. Es ist sicherlich für alle Leser recht aufschluss- reich, wie ein junger Literat und Ka!'arettist aus der Schweiz & Johann und seine Menschen nach seinem fast dreimonatigen Aufenthalt im Oktober, November und De- zember 2001 aus seinem Blick- winkel bewertet. Von Ralf Schlatter PROLOG In der Nachttischschublade meiner Whnung im Haus am Horn liegt eine Hotelbibel. Auf dem Buch steht in Großbuch- staben JOHANNES, JOHN, IUAN, GIOVANNI. Da waren also, daczte ich, kürzlich vier Freunde hier, einer kam aus Deutschland, einer aus England, einer aus Spanien und einer aus Italien. Wie sie alle vier im Joppelbett Platz hatten, weiß ch nicht, vielleicht schlief einer von ihne:z auf dem ausziehba- en Sofa Vielleicht waren die vier Freunde auch vor langer Zeit schon hier, vielleicht waren sie die ersten Touristen, die hierher kamen. Und weil den Leuten riier Touristen heilig sind, nannten sie den Ort nach dem Touristen aus Deutschland, der hieß mit vollem Namen J0- hannes Pefke und der ließ am meisten Geld liegen hier und die Piefkes, so sagt man hier, die müsse man mögen. Und das war dann also der heilige Johan- nes, der Sankt Johann. Mir per- sönlich ist San Juan lieber. So oder so: Ich werde ihnen vier mal vier Geschichten erzählen von meinen Begegnungen mit Johannes, John, Juan und Gio- vanni, hier in San Juan in Tirol. 1. Von Gott und den Radfahrern 'Grüß Gott im barocken Sankt Johann in Tirol' steht auf der Ta- fel beim Eingang zur Fußgän- gerzone. Eine Aufforderung? Ein Befehl? Gleich 4laneben ei- ne weitere Tafel: 'Ausgenom- men Radfahrer.' Ich bin ver - wirrt. Wer soll denn nun Gott grüßen im barocken Sankt Jo- hann und wer nicht? Sind die Radfahrer hier etwa weniger gläubig? Oder die schlechteren Befehlsempfänger? Ich frage Giovanni. Er rudert mit den Händen und wankt mit dem Kopf hin und her. Das müsse ich schon selber wissen, sagt er. Gott soll man also grüßen hier, außer man ist Radfahrer, und St. Johann hat barock zu sein, ob es nun will oder nicht. Ich schaue mich um und sehe, ganz gemäß der Tafel, einen barocken Drogeriemarkt, einen ba- rocken SPAR und eine barocke Raiffeisenbank. Und ganz viele barocke Leute. Ein Radfahrer fährt stumm an mir vorüber. Eigentlich, denke ich mir, müsste man sagen: Grüß Gott von mir. Dann hätte der, der ihn als erster triffl, eine Menge Grüße auszurichten. Giovanni lacht und schüttelt den Kopf. Ich würde das nicht richtig ver- stehen, meint er. Das sage man halt einfach so, das sei eben ei- ne katholische Region hier. Ich murmle vor mich hin, dass mir Sachen, die man nur so sagt, schon immer verdächtig waren und dass ich die Leute gerne beim Wort nehme, dass das so- zusagen mein Beruf sei und dass mir die Worte zu schade seien, um sie nur so zu sagen und als ich wieder aufschaue, ist Giovanni schon im barocken Drogeriemarkt verschwunden. Ich zucke mit den Schultern und gehe in den barocken SPAR. Wieder zuhause, zeigt mir meine Gastgeberin ein Fahrrad, das ich benützen kön- ne. Ich schaue sie misstrauisch an. Sie bemerkt aber nichts. 2. '1515' Johannes, der Erlöser, hat ei- ne Mütze auf, darunter eine klassische Vokuhila-Frisur und seine liebsten Worte sind 'fuch- zehn fuchzehn'. Er hat gerade Nachtdienst am Bahnhof und ich habe meinen Koffer im Zug stehen lassen und 'fuchzehn fuchzehn' ist die Nummer des Zuges, in dem mein Koffer steht und ganz allein in die Tiefen des Tirols fährt. Der Erlöser mit der Mütze ist ihm dicht auf den Fer- sen, er ruft bei jeder Station zwischen St. Johann und Schwarzach an und sagt am An- fang 'fuchzehii fuchzehn'. Den Rest verstehe ich nicht wirklich. Im Buch in meiner Nachttisch- schublade heißt es bei Johan- nes, Buch 'fuchzehn', Vers 'fuchzehn': 'Nicht ihr habt mich erwählt, sondern ich habe euch erwählt und dazu bestimmt, dass ihr euch aufmacht und Frucht bringt und dass eure Frucht bleibt.' Ich habe Johan- nes, meinen Erlöser, erwählt Lind dazu be- stimmt, dass er sich auf- macht und mir km c i - c nen Koffer zurückbringt und dass der Koffer bleibt. 'Fuchzehn fuchzehn' sagt er immer wie- der, den Rest verstehe ich nicht wirk- lich. Im Hin- tergrund singt Janis Joplin aus dem Tran- sistorradio, dass Freiheit nur ein ande- res Wort dafür sei, nichts mehr zu ha- ben, was man verlie- ren könn- te. 'fuchzehn fuchzehn', fällt mir ein, haben die Eidgenossen die Schlacht von Marignano verloren. Das ist mir allerdings egal, wenn ich nur meinen Kof- fer wieder bekomme. 'Fuchzehn fuchzehn' sagt Johannes und dann etwas, was ich nicht ver- stehe und dann strahlt er plötz- lich. Das Reinigungspersonal in Schwarzach hat meinen Koffer gefunden. 'Dann wird euch der Vater alles geben, um was ihr ihn in meinem Namen bittet,' sagt Johannes. Ich sage Amen, danke und grüß Gott von mir. 3. Die philosophische Fußläufigkeit Ich bin eingeladen zu einer Gemeindcratssitzung. Zuerst geht es um mehr Platz für Ur- nengräber, dann vermeldet der Bürgermeister, dass die Nächti- gungszahlen um 1,75 Prozent gestiegen seien und dass die Panorama Badewelt totalsaniert werden müsse. Ich bin froh, dass die eigenen Toten noch vor dem Fremdenverkehr an die Reihe kommen. Und auch die örtliche Infrastruktur scheint ei- ner gewissen Logik zu folgen: Das alte Trauungszimmer wird zur Kin- krippe um- funktioniert und zwischen Schule und Friedhof wird ein Veranstaltungssaal 1 gebaut. Mitten im Gemeinde- ratssaal ergreift mich eine ge- radezu philosophische Stim- mung: Was ist denn unser Leben anderes als eine Veran- staltung im Mehrzwecksaal zwischen Schule und Friedhof? Ein Architekt mit schwarzen Je- ans und Dreitagebart erläutert gerade anhand einer Computer- grafik den Neubau. Und warum ist das Leben, denke ich weiter, nie so sauber und glatt wie es uns diese Architektursofiware vorgaukelt? Der Bauvorsteher sagt etwas von der Fußläufig- keit in der Sprengelgemeinde im Bezug auf die Brandschutz- maßnahmen im Fall einer Total- sanierung. Ich stelle weiter fest: Das Leben ist eine Fußläufig- keit. Es läuft und läuft und läuft und im Grunde weiß keiner so
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