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DONNERSTAG, 17. JÄNNER 2002 LOKAL-ANZEIGER SEITE 33 dem murmeln, ich stehe auf, wenn sie aufstehen und knie nieder, wenn sie niederknien. Ein bisschen komme ich mir vor wie an einem Turnfest. Wo alle in Reihen stehen und mit- einander die gleichen Bewegun- gen machen, als würden sie ei- nem unsichtbaren Obcrturner folgen. Und mich beschleicht das gleiche Gefühl wie beim Betrachten von Turnfesten. Es ist mir verdächtig, wenn so vie- le Leute, getrieben von unsicht- baren Kräften, genau die glei- chen Bewegungen machen und die gleichen Worte sagen. Plötzlich öffnen alle ihre Geld- beutel und halten Kleingeld be- reit. Ein schön gestalteter Beu- tel mit goldig glänzenden Griffen und einem roten samte- nen Sack wird durch die Reihen gegeben und alle stecken das Geld hinein. Ist das der Lohn für den Oberturner? Ist das für die Renovation der Turnhalle? Oder kauft man sich damit Turndispens? Wenig später ist die Messe zu Ende, ich schlüp- fe aus der schweren Kirchentür und atme tief die frische Herbstluft ein. Giovanni kommt nach und fragt, wie mir die Messe gefallen habe. Ich erzäh- le ihm das vom Turnfest. Er ent- schuldigt sich bei mir und sagt, er habenicht gewusst, dass ich 'oB.' sei. Ich schaue ihn entgei- stert an. 'ob'? Also erstens, sage ich zu ihm, sei ich ein Mann und zweitens sei es ja gerade der zumindest von der Werbung verbreitete Vorteil von 'ob', dass man trotzdem turnen könne. Giovanni errötet. 'o.B.' heiße 'ohne Bekenntnis' und also so- zusagen kirchenlos. 'Ach so,' sage ich und lache. 'Nein, ich bin weder o.B. noch kirchenlos, Giovanni. Meine Kirche ist der Herbstwald und mein Bekennt- nis ist die Sonne. Vor allem, wenn sie schräg in den Herbst- wald hineinscheint.' Giovanni schaut mich mit großen Augen an. 8. Nur rasch eine Frage zwischen drin Diese Frage richtet sich an al- le Sankt Johannerinnen und Sankt Johanner. Es ist mir auf- gefallen, dass Sie den Namen Ihres Ortes verschieden beto- nen. Einmal sagen Sie 'Sankt Johann', mit Betonung auf der letzten Silbe also, ein anderes Mal sagen Sie 'Sankt Johann', mit einer unnatürlich klingen- den Betonung auf dem Wort 'Sankt'. Ich habe den Eindruck, dass Sie das 'Sankt' nur beto- nen, wenn es um öffentliche und offizielle Angelegenheiten geht. Glauben Sie, dann das Heilige betonen zu müssen, da- mit man Sie eher erhört im Be- zirk? Ist das ein Ansatzpunkt für eine mögliche Lösung die- ser Frage? Ich bin ratlos und er- bitte Antwort. Am liebsten per e-mail: 'scu!aner(4freesurf.ch'. Vielen Dank. 9. High noon Giovanni, Johannes, Juan und John würde ich natürlich ein- weihen, vorwarnen. Und ich würde selbstverständlich auch dafür sorgen, dass keinem Men- schen etwas passiert. Mich näh- me nur Wunder, wie sie sich verhalten, die Menschen. Was sie tun. Denn ich habe den großen Verdacht, dass sie gar nichts tun würden. Dass sie kurz auf die Uhr schauen und dann vciterplaudern, vcilcrein- kaufen. weiterfertisehcn. wei- tergehen. Denn nichts ist so be- ruhigend wie die wiederkehren- den Gewohnheiten. Und nichts ist so anstrengenc wie diese Gewohnheiten zu Fiinterfragen, von Zeit zu Zeit. Es wäre ein verhältnismäßig kleiner Auf- wand für mich. Ein paar Fässer mit roter Lebensmittelfarbe würden genügen. Ich müsste die Geschwindigkeit der Strö- mung berechnen. Ungefähr auf Höhe der Spanplattenfabrik würde ich die Farbe in die Kitz- büheler Ache leeren. Damit sie Punkt zwölf Uhr am Samstag St. Johann erreicht. Die ganze Ache plötzlich rot. Punkt zwölf Uhr am Samstag. [emand wür- de es bemerken und die Feuer- wehr benachrichtigen. Und dann würde Punkt zwölf Uhr am Samstag der Alarm losge- hen. Wie jede Woche, Punkt zwölf Uhr, am Samstag. Wenn die Leute kurz auf die Uhr schauen, als wollten sie sich versichern, dass einmal mehr Samstag ist und Punkt zwölf Uhr, und dann weiterplaudern, weitereinkaufen, weiterfernse- hen. Genau von diesem Mo- ment an würde mich wunder nehmen, was passiert. 10. Four-letier-words Ich habe erfahren, dass man in Osterreich, gegen Bezah- lung, ein Wort seiner Wahl auf die Autonummer schreiben las- sen kann. Es muss vier Buchsta- ben haben. Ich erzähle es mei- nen vier Freunden. John und Juan schmunzeln. Ihre Namen passen drauf Giovanni und Jo- hannes haben es schwieriger. Aber so oder so: Keiner von ih- nen hat ein Auto, sie fahren alle Fahrrad. Ich über ege mir, was ich auf die Nummer schreiben lassen würde und steIle eine Li- ste zusammen mit meinen Lieb- lingswörtern mit vier Buchsta- ben: MEER, LOVE, AUGE, BUCH, LOOP, IDEE, BALL, COOL. Hätte ich einen Zweit- wagen: HORI / ZONT. Und hät- te ich dazu noch einen Ge- schäftswagen: BLUM / ENWI / ESEN. Auf meinem Kinderwa- gen stünde LISA. Aber das schönste Wort mit vier Buchsta- ben ist ohnehin ANNA. Aber das gäbe ich nie her für eine Autonummer. So taufe ich höchstens mein nächstes Fahr- rad. Wenn es denn eine Frau ist. Sonst natürlich John. Oder Juan. Die zwei schmunzeln. ii. Cequej'aime/ ce queje n'aimepas Was ich liebe: Den Apfelstru- dcl im Cafö Rainer und den na- mcnlosen Kellner, der ihn mir wie aus einer längst vergange- nen Zeit serviert. Was ich nicht liebe: Diese Hotlines mit diesen Warteschlaufen mit diesen tol- len teuren Melodien, und dann aus dem Nichts diese furchtbar freundliche Stimme mit der langen Anrede und was sie für mich tun könne, die dann nach mittlerweile 350 Schilling sagt 'Besorgen Sie sich die Windows 98-Installations-CD und rufen Sie noch einmal an.' Was ich lie- be: Eine Dusche unter dem Schleierwasserfall. Was ich nicht liebe: Die Schneekanonen, wie sie aufgereiht dastehen, auf dem Parkplatz der Bergbahn, schussbereit und willenlos. Was ich liebe: Den scherbelnden Vierklang aus den Bahnhoflaut- sprechern, der die Züge ankün- digt, die mich in die weite Welt hinausbringen. Was ich nicht lie- be: Wörgl. Das heißt: umsteigen in Wörgl. Das heißt: Vierzig Mi- nuten in der Bahnhofshalle ste- hen in Wörgl. Das heißt: Die Ki- ‚-‚ . . ...
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