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SEITE 34 LOKAL-ANZEIGER DONNERSTAG, 17. JÄNNER 2002 oskauslage betrachten, die War- tenden anstarren, die Kioskaus- lage noch einmal betrachten, die Wartenden noch einmal anstar- ren, die Kioskauslage anstarren, vor mich hin starren und durch- drehen in Wörgl. Was ich liebe: Diese stummen Regionalzüge, die durch die Nacht fahren, ohne Lautsprecherdurchsagen, weil die wenigen Leute, die darin sit- zen, ohnehin wissen, wo sie aus- steigen müssen. Diese stummen Regionalzüge, die mich zurück bringen in die kleine heile Welt. Morgen werde ich John zu einem Apfelstrudel einladen, Johannes zum Schleierwasserfall schicken, mit Giovanni die Schneekanonen mit Popcorn flillen und Juan mit dem EC Radio Steiermark in die weite Welt hinaus fahren lassen. Ohne Halt bis mindestens Inns- bruck. 12. Altweibersommer Es ist ein Altweibersommer aus dem Bilderbuch. Ich gehe mit Johannes in Richtung Einsie- delei und frage ihn, ob er eine Ahnung hat, warum man von Altweibersommer spricht. Viel- leicht, sagt er, weil die Sonne trä- ge und feist wie ein altes Weib am Himmel sitzt. Wie die alten Frauen, die am Sonntagnachmit- tag vor dem Bauernhof sitzen, ei- ne Katze auf dem Schoß und den Rücken an die warme Holzwand gelehnt. Schwester Veronika ist weder alt noch träge noch legt sie die Hände in den Schoß. Und ih- re Katze ist ein junger Hund und heißt 'Blacky'. Sie empflingt uns und macht uns Tee, wir sitzen an einem Holztisch und reden über Gott und die Welt und eigentlich viel mehr über die Welt als über Gott, bis sich die Altweibersom- mersonne hinter dem Wilden Kaiser verzogen hat. Schon als junge Ordcnsschwester sei es ihr Traum gewesen, Eremitin zu sein, sagt sie und ihre kleinen wachen Augen lächeln verstoh- len. Ich bewundere ihren Mut und ihre Selbstverständlichkeit. Ich wünsche ihr noch ganz viele Eisheilige, Hundstage und Alt- weibersommer. 13. Ich bin der, der Was mir auffällt hier: Kaum erwähnt man einen Namen von jemandem aus der Gemeinde, da muss das Gegenüber sofort ein- ordnen können, wer das ist. Wes- sen Sohn, wessen Tochter, aus welcher Familie, von welchem Geschäft, welcher Pension. Und zu wem er oder sie in die Schule gegangen ist. Und dass der Vater. Und dass die Mutter auch schon seit langem. Und dass die Fami- lie eben. Und dass es kein Wun- der sei, dass der Sohn dann. Und dass das also ein für allemal klar ist: Juan ist der Sohn von diesem Tischler, der. Und Johan- nes blieb sit- zen im Gym- nasium, weil er ausge- rechnet beim. Gio- vanni ist aus dieser Fami- lie, die da- mals vor auch schon w i e d e r zwanzig Jah- ren. Und John hat die Frau gehei- ratet, die die- se Pension dort hinter der Sommer- rodelbahn. Jetzt wisst ihr c Las. Und übrigens: Mein Name sei Niemand und ich bin der, der. 14. Eine Ladung Fragen Ich habe eine LADUNG er- halten, in Großbuchstaben, von der Bezirkshauptmannschaft Kitzbühel. An 'Herrn / Frau Schlatter Ralf, geb. am 01.11.1971'. Woher wissen die meinen Namen, nicht aber mein Geschlecht? Der Grund für die LADUNG: 'Ihr Aufenthalts- recht in Österreich!' Mit Ausru- fezeichen. Datum: 'sogleich'. Mein Aufenthaltsrecht wird al- so sogleich und mit Ausrufezei- chen behandelt. Warum sollen andere in einem geeigneten Drittland warten? Ich trete ins Büro der Fremdenpolizei. Der Schrank hinter mir ist beklebt mit Ansichtskarten. Eine Frau steht an einem Sandstrand und leckt an einem Eis, das sie sich zwischen ihre nackten Brüste geklemmt hat. Schreibt sie der Fremdenpolizei aus dem geeig- neten Drittland? Hat sie auch eine LADUNG? Er arbeite jetzt seit zwölf Jahren hier, aber so etwas sei ihm noch nie unterge- kommen, hatte der Mann ge- sagt, und dass er das erst einmal in die Rechtsabteilung faxen müsse. Es geht darum, ob ich als Marktschreiber eine Arbeits- bewilligung brauche. Gilt es als Arbeit, wenn man Fragen stellt? Auf dem Bildschirmschoner wechseln sich Comiebilder von Mäusen ab. Draußen fällt der erste Schnee, Schulkinder be- werfen sich mit Schneebällen. Der Mann kommt zurück. Wenn ich nichts mehr höre, sagt er, dann sei al- les in Ordnung. Ich danke und gehe. Seltsam, denke ich. Habe ich jetzt ein Recht, hier zu sein, wenn ich nichts höre? Oder ein Recht, nichts zu hören? Zu schreiben, was ich nicht höre? Die Pflicht, zu schreiben, was ich sehe? Was meinst du dazu, Giovanni? Hast du auch eine LADUNG? Er steht an einem Kiosk und starrt auf die An- sichtskartenauslage. Gebt mir bitte eine Arbeitsbewilligung. Ich habe noch viel zu tun. 15. Maria Theresia und John F. Kennedy Der EC Maria Theresia fährt von Innsbruck bis Buchs in die eine, von Buchs bis Zürich in die andere Richtung. Setze ich mich in Innsbruck mit Blick in Richtung Schweiz, dann fahre ich durch die Schweiz mit Blick zurück in Richtung Osterreich. Und fahre ich aus der Schweiz hinaus, nach Osterreich spähend, dreht sich in Buchs das Blatt wieder und ich blicke zurück. Gestern wurde mir in Zürich ein Weisheitszahn gezo- gen. Ich setzte mich in den EC Maria Theresia und fuhr los. Gleichzeitig klang langsam die Betäubung in meiner Wange ab. In Buchs begann die Wunde zu pulsieren. Mit Blick zurück im Schmerz und in die Schweiz fuhr ich nach Innsbruck. Was uns das alles sagt? Das Leben ist eine Reise im EC Maria The- resia. Während der ersten Hälf- te schaut man nach vorn, während der zweiten zurück. Und was am Ende bleibt, ist ei- ne geschwollene Wange, mit der man zur Hälfte aussieht wie John F. Kennedy. Oder Juan E Kennedy. Oder Johannes F. Piefke. Oder so. 16. Zwei Volks- bräuche in San Juan Beim 'Seinihonsa Perchten- und Krampustreffen' zieht man sich zottlige Gewänder und furchterregende Masken über und lässt die Sau raus innerhalb der Abschrankungen auf dem Umzugsparcours. Beim 'Sei- nihonsa Bier- und Festzelttref- fen' zieht man sich die zottligen Gewänder und die Masken wie- der aus, lässt sich mit Bier voll- laufen, stellt sich auf die Fest- zelttische und singt im Verbund 'Hey, hey Baby, hu, ha.' Aus volkskundlicher Sicht kann man dazu folgendes feststellen: Wenn der Mensch nüchtern ist, braucht er eine Maske, um die Sau raus- zulassen. Wenn er betrunken ist, braucht er einen Fcstzelttisch und ein Lied von DJ Otzi. Inter- essant wäre die Umkehrung der zwei Volksbräuche: Die Leute würden beim nächsten 'Sei- nihonsa Perehten- und Krampus- treffen' sturzbetrunken durch die Straßen laufen und ein Lied von DJ Otzijohlen. Die Frage ist, ob das dann auch 60 Schilling ko- sten würde flur die Zuschauer. Abends würden sich die Leute dann mit den zottligen Gewän- dern und den Masken auf die Festzelttische stellen und ganz nüchtern die Sau rauslassen. Nur so als Idee. EPILOG Gäbe es John, Juan, Johannes und Giovanni wirklich, sie wären Mitglieder beim Verein Musikkultur St. Johann, kurz: MUKU. Und ich würde sie all den wunderbaren Leuten von der MUKU vorstellen, ohne die St. Johann um so viel ärmer wä- re. Und dann würde ich sie um einen letzten Gefallen bitten: Liebe MUKU-Leute! Führt zu meinen Ehren einen neuen Volksbrauch ein. Ladet alle Leute ein, sieh jedes Jahr ein- mal zwei Minuten lang mitten auf dem Hauptplatz auf den Kopf zu stellen. Das reicht, für eine andere Sicht auf Sankt Jo- hann in Tirol.
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