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* * * Weihnachtsbeilage 2002 * ♦ * Die große Gemeinheit Und oft musste man Schi fah ren. Im Winter holte der An ton jeden Tag die Milch vom- Bauern auf Schiern. In die Schule fuhr er meistens auch auf Schiern. Christine Nöstlinger "Fröhliche Weihnachten, Liebes Christkind" erschienen im Dachs Verlag GmbH, 1220 Wien. Schi waren sehr wichtig für ihn. Und genauso wichtig waren Bücher für ihn. Er las schreck lich gern. Die Bücher brachte ihm jedes Jahr das Christkind. Wenn man nur einmal im Jahr Bücher bekommt, ist man natürlich neugierig, ob es auch die richtigen Bücher sein werden, denn dann braucht man Bücher zum Immer-wie- der-Lesen. Bücher, wo Seiten drin sind, die man auch zehn mal lesen kann. Und so fragte der Anton fast jeden Tag seine Mutter; "Wie viele Bücher kriege ich denn diesmal zu Weihnachten? Und was für Bücher sind das? Sag's mir nur so ungefähr, bit- ■48'<arjpi Manchmal erzählen erwach sene Leute von einer großen Gemeinheit, die ihnen er wachsene Leute damals, als sie noch Kinder waren, ange tan haben. Denen, die zuhören, kommt das oft gar nicht besonders gemein vor. Die denken sich dann: Was regt sich der so drüber auf, wenn dem nichts Ärgeres als Kind passiert, kann er froh sein. Wenn der Anton von viel früher erzählt und von der großen Gemein heit, die man ihm angetan hat, ist das auch eine Weih nachtsgeschichte. Jahre ist es schon her, dass sie der Anton erlebt hat. Damals war er neun Jahre alt. Er wohnte auf dem Land, in ei nem kleinen Dorf. Seine El tern hatten dort eine Greißle- Jahr gab es nur selbst ge backenes Schwarzbrot. Das schmeckt gut, wenn es frisch ist, aber die Bauern buken nur alle drei Wochen. Brot, das drei Wochen alt ist,, schmeckt überhaupt nicht gut. Da freut man sich über weiße Sem meln zu Weihnachten, aber besonders wichtig sind sie ei nem auch nicht. Die Greißler kinder und die Doktorkinder waren die einzigen Kinder im Dorf, für die Weihnachten mehr bedeutete als weiße Semmeln, Mützen, Hemden und Fäustlinge. Die Mutter vom Anton liebte Weihnachten Schon lange vor Weihnachten tat sie immer recht geheim nisvoll. Einmal in der Woche fuhr sie mit dem Bimmelzug in die Stadt, und wenn sie wieder heimkam, hatte sie je des Mal ein oder zwei Päckchen in der Tasche, die waren fest verschnürt, und dann sagte sie zum Anton und seinen Geschwistern; Christkind durfte in die Kre denz hineinschauen. Anfang Dezember brachte sie auch den Adventkalender aus der Stadt mit. Und der Anton zählte jeden Tag die Tage bis Weihnachten ab, und wieviel mal er noch ins Bett gehen und schlafen musste, bevor der Heilige Abend endlich da war. Und an die Kredenz musste er auch immer den ken! Die Weihnachtsgeschen ke waren nämlich eine sehr unsichere Sache. Sagte der Anton: "Ich wün sche mir heuer zu Weihnach ten ein Paar neue Schi!", wiegte seine Mutter den Kopf und sagte mit Seufzerstimme; "Ich weiß wirklich nicht, ob du dem Christkind brav ge nug warst für neue Schi!" Aber gleich nachher lächelte sie wieder so geheimnisvoll, dass der Anton dachte: Sicher bekomme ich die neuen Schi! Und dann wieder, wenn der Anton etwas getan hatte, was nicht besonders brav gewe sen war, sagte seine Mutter: "Da wird das Christkind heu te Nacht kommen und sich al le Packerl zurückholen und sie einem anderen, viel braveren Kind bringen." In der Ge gend, wo Anton lebte, schneite es schon im Novem ber, und der Schnee schmolz den ganzen Winter nicht weg. Bis in den April hinein konnte man dort Schi fahren. te!" Aber die Mutter lachte bloß immer und sagte: "Das weiß ich doch nicht, da müsstest du schon das Christkind selbst danach fragen!" Das ganze Glück hing also vom Christkind ab, und der Mutter vom Anton machte es Spaß. Fast zwei Monate lang hatte sie einen braven Anton, der meistens folgte und nur ganz selten schlimm war, da mit er das Christkind nicht verärgerte. Er wusste natür lich, dass es kein Christkind gab, aber das traute er sich nicht zu sagen; auch das hät-. te das Christkind verärgern können. Mit jedem Tag zu Weihnachten hin jedenfalls wurde der Anton aufgeregter, und an manchen Abenden, wenn es im Haus schon ganz still war, lag er im Bett und dachte darüber nach, ob er das größte Verbrechen der Welt wagen sollte. Das größ te Verbrechen der Welt war, den Schlüssel zur Kredenz aus Fünfzig besonders. rei. Die anderen Leute im Dorf nahmen Weihnachten nicht sehr wichtig. Die waren Bau ern. Bei denen gab es zu Weihnachten nur einen klei nen Christbaum, mit nichts drauf als ein paar dünnen, weißen Kerzen und ein bis schen Engelshaar. Und die Bauernkinder bekamen zu Weihnachten Fäustlinge oder eine Mütze oder ein Hemd. "Die hat mir das Christkind mitgegeben!" Alle Päckchen, die das Christ kind der Mutter vom Anton mitgegeben hatte, kamen in die große Kredenz im Wohn zimmer, und der Schlüssel von der Kredenz war in der Schür zentasche der Mutter. Nie mand außer ihr und dem Und weiße Semmeln kriegten sie zu essen. Fortsetzung - bitte umblättern An allen anderen Tagen im
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