Kitzbüheler Anzeiger

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1 24. März 05 31 Der St. Johann-Essay von Marktschreiber Clemens Berger St. Johanner Ansichtskarten Reihe ich mich ein unter die Verkäufer.« verwundert ein paar Meter wei­ ter hinten wiederfindet, flu­ chend weiter. »So ein falscher Hund«, schreit Mundl, »verklei­ det sich als Tiroler, dabei ist er gar keiner.« Aber dann, als letz­ ter, kommt' ein wenig linkisch Vitus, der echte Tiroler, und wird Mundls Bruder Schani, der von seiner Schwester nicht las­ sen will, später nach Innsbruck einladen. »Komm nach Tirol«, sagt er, »und du wirst wieder ein Mensch.« »Bin ja eh ein Mensch«, sagt Schani. »Bischt ka Tiroler, bischt a Orrschloch«, hört man auch bisweilen. „ das wahre Maß des Lebens ist die Erinnerung. “ Walter Benjamin, Notizen Svendborg Sommer 1934 Der Tiroler oder Die Feder Einst war für meine Freunde und mich »Tiroler« ein oft benutztes Wort, das wir einander in vieler­ lei Variationen an den Kopf war­ fen, wenn uns der oder die ande­ re unaufrichtig erschien. »Du bist ein Tiroler«, sagte man dem, der sich verstellte, sagte man der, die gerade das nicht tat, was zu tun sie vorgab. Bald war es jedoch gar nicht mehr nötig, »Tiroler« zu sagen - eine rasche Handbewegung vom Hinterkopf steil in die Luft genügte, um an die Feder zu er­ innern, die der falsche Tiroler am Hut trägt. Der kam für uns in Oberwart, Felsöör oder Erba nämlich in »Ein echter Wiener geht nicht unter« am Westbahn­ hof an, wo der aufgeregte Mundl mit einem Volksstimme­ festwimpel (ich wußte damals weder von einer Volksstimme noch von ihrem Fest, die es bei­ de nicht mehr gibt, und meinte »Volksstürmerfestwimpel« zu verstehen, was mir erst recht verdächtig vorkam) vorm Mo­ dell eines Ozeandampfers auf den unbekannten Tiroler wartet, dem zu kommen er im ersten Fax seines Lebens befohlen hat, um der Beziehung zwischen sei­ nem Bruder und dessen Schwes­ ter ein Ende zu bereiten. Und da kommt auch schon ein stattli­ cher Herr mit riesigem Bauch, der in einem Trachtenanzug steckt, am Kopf einen Hut mit Feder. Mundl wischt sich über den Schnauz, tritt zaghaft hin­ term Ozeandampfer hervor, »Herr Tiroler«, sagt er leise (»Herr Burgenländer«, sagte ei­ ne beim Treffen der Kulturverei­ ne zu mir), lüpft den Wimpel, das Erkennungszeichen, das der Angesprochene naserümpfend ignoriert. Mundl wird ungedul­ dig, »HeanS, Sie, Herr Tiroler, Sie«, schwenkt den Wimpel vor der Nase und lächelt den so Be- zeichneten überfreundlich an. Der bleibt stehen, mustert Mundl gründlich, ehe er im breitesten Wienerisch: »Heast, du Wiaschtl, bist bsoffen oder bist deppat?« sagt. Dann ver­ setzt er Mundl einen Wanststoß und geht, während dieser sich gigkeiten durchwobenes System verteidigten, das den Mägden, Knechten, Frauen und Nichtka­ tholiken als das genaue Gegen­ teil von Freiheit entgegentrat. Sie verteidigten eine Ordnung, die die selbstbestimmte Entfal­ tung des Individuums hinter­ trieb, eine hierarchische Gesell­ schaft, der sie das Echtheits­ zertifikat des Natürlichen auf­ drückten, und eine Moral, die ihren Zwecken untergeordnet war. In einer schwachen Analo­ gie verweisen die islamistischen Kämpfer im heutigen Irak und Afghanistan auf jene Tiroler Freiheitskämpfer. Auch sie ver­ teidigen oder kämpfen für eine Ordnung, die systematisch Un­ gleichheiten erzeugt, einem großen Teil der Vielen jegliche Mitsprache verwehrt, und ein System der Angst, das denen, die aufzubegehren sich wagen, die Waden nach vom richtet. Al­ lein das Mehr an Freiheit, das die Vereinigten Staaten tatsäch­ lich bringen, ist alles andere als das, was man unter einem em­ phatischen Begriff derselben versteht. Diese Aufständischen Arbeitskreis Literatur St. Johann in Tirol Ankunft Eines Morgens bin ich ins Auto gestiegen xmd habe der Post, in­ des der aufdringliche, lächerli­ che Klingelton meines Mobilte­ lefons, den ein Freund am Vorabend heimlich eingestellt hatte, zweifelnde Blicke auf mich lenkte, eine neue Adresse hinterlassen. Der Universitätsbi­ bliothek brachte ich zwei Bücher zurück, rauchte eine letzte Zigarette vorm Votivpark und fuhr im Westen Wiens, wo ich an einer bestimmten Stelle bis vor kurzem und jahrelang . immer nach rechts, dann gleich wieder nach links in eine Bezie­ hung gebogen war, mit einem Augenwinkelwischen aus der Stadt. Der Mondsee, später, gräulich im Gegenlicht, übers sogenannte kleine deutsche Eck von Salzburg nach Tirol. Vorbei an der Steinplatte, die aussieht, wie sie heißt, steht mit einem Mal »St. Joharm« auf einem Ortsschild. Gegenüber der Müh­ le, in deren Schaukasten ver­ gilbte Poster einer Freiheitlichen Partei hängen, halte ich vor ei­ ner Apotheke, schon kommt der violette Wagen, in dem ich in nächster Zeit oft sitzen werde, und die Stimme, die mich vor Monaten anrief, als ich in Ober­ wart vor einer Friseurin saß, ob ich nicht als Marktschreiber kommen wolle, steigt mit Kör­ per und Gesicht lächelnd aus und begrüßt mich. Ein Markt­ schreiber, ja das bin ich,, auch in einem andern Sinn: Selbst wenn ich nicht wollte, schreibe ich für einen Markt, der immer größer und eindimensionaler wird. Bert Brecht hat es im Exil treffend formuliert: »Jeden Morgen, mein Brot zu verdienen / Fahre ich zum Markt, wo Lügen ge­ kauft werden. / Hoffnungsvoll / Freiheitskämpfer Die St. Johanner Hauptstraße ist nach Speckbacher, der kleine Weg zum Haus am Horn, in dem ich wohne, nach Wintersteller benannt. Beide werden Frei­ heitskämpfer genannt, obwohl die Freiheit, die sie meinten, mit einem emphatischen Begriff derselben nichts am Hut hat. Es war die zweifelhafte Freiheit Weniger, die sie gegen den ver­ teidigten, der damals tatsächlich ein Mehr an Freiheit gebracht hätte: Napoleon mit seinem Co­ de civil. Die sogenannten Frei­ heitskämpfer waren Reaktionäre im strengen Sinn, die ein patri­ archales, katholisches, ständi­ sches, autoritäres, von Abhän-
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