Kitzbüheler Anzeiger

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K 36 / Lokal 21. April 05 Toni Werner: Auszüge aus 2005 ist ein bedeutungs­ schweres Jubiläumsjahr, für mich ein Jahr zum Nachdenken, was war vor 60 Jahren? Begleiter die Nerven und ließ sich in eine Bodenmulde fallen. Das war für mich jetzt freilich ein breiizliger Moment. Zurück konnte ich jedoch nicht. So schritt ich tapfer weiter. Bei der ersten Gebüschreihe warteten bereits die Amis, das Gewehr im Anschlag auf mich. Von mehreren Seiten wurde ich an- geschrien: “Hands up!”. Dann wurde ich abgetastet und zum Kommandanten eskor­ tiert. Ich trug ihm in meinem gebrochenen Englisch mein An­ liegen vor. Und, oh Wunder, er war bereit, einen Arzt zu unse­ ren drei Verwundeten zu schicken. Mein Soldbuch wur­ de mir abgenommen und mir verdeutlicht, dass, wenn dem Die Zeichnung eines Teiles des Gefangenenlagers In Attichy Arzt etwas passiere, ich dran dokumentiert die riesigen Ausmaße der “Zeltstadt”.. Unsere Einheit, das Flackre- giment 155(W) war eine techni­ sche Einheit, die 1944/45 aus Frankreich, Holland und der Ei­ fel mit der V-1 Ziele in England und Belgien beschoss. Ende März 1945 begann unser Rückzug aus Holland wegen der vordringenden Alliierten. Unser Regimentsbefehl war, hinhaltenden Widerstand aus­ zuüben. Die Amerikaner sollten möglichst weit über die Elbe nach Osten gelockt werden, da­ mit die Russen wenige Gebiete besetzen konnten. Die Russen würden die deutsche Bevölke­ rung dezimieren, von den Ame­ rikanern wurde solches Vorge­ hen nicht angenommen. Aufgrund dieses Befehles sollte also nicht bis zur Selbstaufgabe unsererseits gekämpft werden. So vermieden wir nach Mög­ lichkeit Feindberührung. Letzter Widerstand gegen die Amerikaner wäre. Der Arzt nannte sich “Njumen” und hieß eigentlich wundete, die ich damit notdürf- Neumann. Er war ein emigrier- tig versorgen konnte. Im Dorf ter Jude aus Niederösterreich, hatten die Bewohner - Arzt war so sprach er wenigstens keiner zur Verfügung - eine Ver- Deutsch, wundetenaufiiahme eingerich­ tet. Unsere Leutnante Lutz und Specht machten sich um die Versorgung der Verwimdeten Sorgen und meinten, laut Gen­ fer Konvention müssten die einer Verbindungsstraße ins Amerikaner auch unseren Ver- Dorf. Auf der Kühlerhaube war wundeten Hilfe leisten. Specht ich, die amerikanische Rot Kreuz beschloss daher, mit einer Faluie schwingend. Ich fühlte weißen Fahne zu den Amerika- mich trotzdem als Zielscheibe, nern zu gehen. Meine Sanitäts- Es war eine schizophrene Situati- seele zwang mich dazu, ihn zu on. Ich, als kleiner Obergefreiter begleiten. So meldete ich mich saß im Jeep des Feindes und raste mit dem Captain der gegneri­ schen Armee durch die Feuerli­ nie, um den verwundeten Kame­ raden zu helfen. Der Captain behandelte die Verwundeten, die Wir bastelten mit weißem im Keller der Familie Kahlsdorf Stoff eine Fahne und malten mit lagen, derweil ich beim Jeep Wa­ dern Lippenstift der Kahlsdorf ehe hielt. Inzwischen hatte Leut- Töchter ein rotes Kreuz darauf nant Lutz erfahren, dass nur we- Specht legte seine Pistole ab nige Kilometer entfernt das und wir bekamen um den Arm Feldlazarett Saint Omer einge- eine weiße Serviette mit rotem richtet war. Der Captain war be- Kreuz umgebunden. So ver- reit, die drei Verwundeten dort­ ließen wir den schützenden hin zu bringen. Irgendwie hatte Wald und gingen durch die ich das Gefühl, dass er selbst Frontlinie über das freie Feld ganz gerne dem Gefecht entfloh. Im Feldlazarett empfing uns Ich schwang dabei heftig die ein deutscher Stabsarzt mit Alko- Fahne. Es fielen vereinzelt noch Fahne. Er wollte das Lazarett Schüsse. Wir hatten etwa die dem Captain übergeben. Dieser Hälfte des etwa 500 m breiten schrie ihn jedoch an, er solle sich Niemandslandes zurückgelegt, zusammenreißen und seinen als die Schießerei wieder leb- Dienst weiter versehen. Der Cap­ hafter wurde. Da verlor mein tain und ich fuhren nach Abliefe- wäre es eine Henkersmahlzeit, sollte es das Letzte für lange Zeit sein. Auch die familiäre Aufiiahme tat mir gut. Die kom­ mende Ungewissheit begann schon sehr an mir zu zehren. Ich nutzte die Gelegenheft der Be­ kanntschaft mit der Familie Kahlsdorf meine letzten Hab­ seligkeiten, meine zwei Fotoap­ parate, dort zu lassen Auch ie Am 20. April 1945 kamen wir Fotos meiner Geschwister Riki nach Bergen, einen kleinen Ort und Max übergab ich und wir in der Lüneburger Heide, 35 km verabredeten, dass d:e Fotoap- westlich von Dannenberg an der parate demjenigen ausgehän- Elbe, wo bereits die Russen digt werden könnten, der glei- standen. Nun sollten wir den che Bilder vorwies, wenn ich nachrückenden amerikanischen selbst nicht mehr konunen wür- Truppen noch einen letzten Wi- de. derstand leisten, um nicht in russische Gefangenschaft zu kommen. Über uns flogen schwere Bomberverbände, an die 300 Maschinen nach Berlin, zu “Führers Geburtstag.” Leutnant Lutz beauftragte mich, einen Traktor zu besor­ gen, um unsere einzige Kanone, mich in meine Zel:plane und ein 3,7 cm Flackgeschütz in Po- schlief ganz gut. Am Morgen sition zu bringen. Ich fand ei- sah ich dann, dass ich auf einem nen Traktor bei der Familie Misthaufen geschlafen habe. Kahlsdorf und brachte ihn noch vor Einbruch der Dunkelheit eröfihieten die Amerikaner um zurüek, obwohl ich ihn eigent- 6.00 Uhr früh das Feuer auf uns. lieh in der Nähe des Geschützes Ich hatte keine Waffe, keinen für einen weiteren Stellungs- Stahlhelm. Von einem Hilfssa- weehsel abstellen hätte sollen, nitätskurs, den ich einmal ab- Er sollte keine Rolle mehr spie- solviert hatte, trug ich lediglich len. Ich bekam allerdings für eine Tasche mit etwas Ver­ meine Fürsorglichkeit noch ein bandszeug mit mir. Gegen 9.00 reichliches Abendessen. Als Uhr hatten wir bere.ts drei Ver- Im Jeep des Feindes durch die Feuerlinie In einem Jeep fuhren wir auf freiwillig. Nachdem ich mich von der Familie Kahlsdorf herzlich ver­ abschiedete, suchte ich das Waldstück, in dem wir uns ein­ gegraben hatten. In der Finster­ nis fand ich eine etwas erhöhte Stelle, die mir weich und trocken erschien. Ich wickelte Durch die Frontlinie zu den Amerikanern Am Morgen dieses 21. April zum Ami.
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